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nie, fand er wieder zu sieghafter Überwin dung der dunklen Mächte. In ihrem formalen Aufbau ist die eine unge meine Verfeinerung des musikalischen Aus drucks aufweisende Sechste traditionell vier- sätzig und nicht wie andere Mahler-Sinfonien in Abteilungen gegliedert. Wesentlich erschei nen die stark erweiterte Thematik und die vielfältigen thematisch-gedanklichen Verbindun gen zwischen den einzelnen Sätzen. (Hierbei sei vor allem das charakteristische symbolische „Motto" der Sinfonie erwähnt, das in Gestalt eines kurzen „Leitmotivs", des nach a-Moll ab sinkenden A-Dur-Dreiklangs, an entscheiden den Stellen auftritt und das gewaltsame Niedergedrücktwerden symbolisieren soll.) In bezug auf die riesigen orchestralen Mittel, die Mahler einsetzte, um seine geistigen Intentio nen zu verdeutlichen, wird sogar gegenüber der 5. Sinfonie noch eine Steigerung erreicht; vor allem kommt ein besonders großes Auf gebot von Schlaginstrumenten (u. a. Rute, Holz klapper, Herdenglocken, Hammer) zur Anwen dung. Ein Allegro energico bildet den ersten Satz. Aus Marschrhythmen entwickelt sich das Haupt thema von trotziger Entschlossenheit, dann er klingt zum erstenmal als Trompetenmotiv das bereits genannte „Motto" der Sinfonie. Nach einem choralartigen Seitensatz in F-Dur wird das leidenschaftliche zweite Thema (mit dem der Komponist Alma porträtieren wollte) vorge tragen. Auf dem Höhepunkt der dramatischen, erregenden Durchführung, in der das thema tische Material überaus kunstvoll verarbeitet wird, erreicht plötzlich ferner Glockenklang unser Ohr. „Es ertönen inmitten wilder Leidens ausbrüche für einen Augenblick vertraute Klänge von Bergesseligkeit und Weltenferne (,wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual'). Sirenenhaft lockende Vorstellungen von Gelöstheit und Freiheit nehmen Gestalt an von .Freiheit' - in Einsamkeit auf Alpengipfeln - zauberhaft in ihrer Tonwelt, in ihrer für Mahler ja fast sprichwörtlichen, unerhört differen zierten Orchesterbehandlung, mit hochgele genem Streicherpianissimo, Herdenglocken, pastoralen Hornrufen: ein ergreifend musizier tes .Verweile doch, du bist so schön' - doch nur, um alsbald noch abgrundtieferem Leid, noch rasenderem Kampf Platz zu machen. Denn er weiß wohl von der Kurzlebigkeit solcher Trugbilder in einem tobenden Meer brutaler Wirklichkeit" (E. H. Meyer). Erneut beginnt in der Reprise das erbitterte Ringen; doch hier erscheint der Kampf noch nicht als aussichtslos: in strahlendem A-Dur schließt der Satz mit gewaltigen, sieghaft-triumphalen Klängen. Der zweite Satz, ein typisches Mahlersches skurril-bizarres Scherzo mit dämonisch-fantasti schen Zügen, dessen Thema aus einem Pauken rhythmus entsteht, zeugt wieder von größter seelischer Zerrissenheit und Zerklüftung. Auch ein Teil mit Triocharakter, „Altväterisch, gra- zioso" überschrieben, trägt trotz schlichter, volksliedhafter Thematik durch seltsam schwan kende Dynamik und unsteten Wechsel zwi schen 3/8- und 4/8-Takt (womit übrigens das „arhythmische Spielen der beiden kleinen Kinder" wiedergegeben werden sollte, „die torkelnd durch den Sand laufen") zu dieser Haltung des düster verklingenden Scherzos bei. In stimmungsmäßigem Kontrast zu den vor ausgehenden Sätzen wird im folgenden, in Es- Dur stehenden pastoralen Andante mit kan- tablen, zum Teil etwas elegischen Melodien ein Bild scheinbaren inneren Friedens ge zeichnet. Ungeheure Steigerungen und Höhepunkte bringt endlich das gigantische, monumentale Finale, der eigentliche Kernsatz der Sinfonie. Nach einer mächtigen Sostenuto-Einleitung und der nacheinander erfolgenden Aufstellung des äußerst vielfältigen thematischen Materials werden in diesem sehr umfangreichen, größte Anforderungen an den Hörer stellenden Satz, der besonders mit dem ersten Satz durch the matische Beziehungen verknüpft ist (Marsch rhythmen, Choral, „Leitmotiv"), in der riesen haften Durchführung - es handelt sich dabei im Grunde um drei Durchführungen - gewal tigste Kämpfe und Auseinandersetzungen voll stärkster Kraftentfaltung ausgetragen. Doch diesem wahrhaft erbitterten, heroischen Ringen und Aufbegehren ist kein Sieg beschieden; zweimal gebietet ihm ein symbolisch aufzu fassender wuchtiger Hammerschlag Halt. Dann ist die Widerstandskraft endgültig ge brochen, und in Resignation und dumpfer Hoffnungslosigkeit klingt das Werk aus. Dieter Härtwig