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hinauf, wo wir mitten im Walde ohne Störung waren. All das geschah i mmer mit einer großen Feierlichkeit." Im Anschluß an diesen Bericht macht Alma die angedeuteten wichti gen Angaben: „Nachdem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Walde herunter gekommen und hatte gesagt: ,Ich habe versucht, dich in einem Thema fest zuhalten - ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du mußt dirs schon gefallen lassen.' Es ist das große, schwungvolle Thema des ersten Satzes der 6. Sinfonie. Im dritten Satz schildert er das arhythmische Spielen der bei den kleinen Kinder, die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich - diese Kinder stimmen werden immer tragischer, und zum Schluß wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden. ,Der Held, der drei Schicksals schläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum.' Dies Mahlers Worte. Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein propheti sches obendrein. Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern wie auch mit der Sechsten sein Leben ,anticipando musiziert. Auch er bekam drei Schicksalsschläge und der dritte fällte ihn. Damals aber war er heiter, seines großen Werkes bewußt und seine Zweige grünten und blühten." Man kann kaum den tieferen Sinn dieser Äußerungen recht verstehen, wenn man von Mahlers geistiger Welt nichts erfahren hat. Mahler war nach dem Zeugnis Richard Spechts „vollkommener Determinist"; er war von der Überzeugung durchdrungen, „daß der Schaffende in den Stunden der Inspiration auf eine höhere, vorwegnehmende Stufe seiner Existenz gehoben werde und das Erlebnis, das der Alltag später bringen müsse, im Produzieren schon antizipiere". Erst wenn man sich in diese Auffassung vertieft, kann man auch die Mitteilung Almas begreifen, wonach Mahler nach der Generalprobe zur Urauf führung der Sechsten am 27. Mai 1906 in Essen ganz erschüttert, „schluchzend, hände ringend, seiner nicht mächtig" gewesen sei. Kein Werk - so Alma - sei ihm beim ersten Hören so nahe gegangen. Bei der Aufführung dirigierte er die Sinfonie „fast schlecht, weil er sich seiner Erregung schämte und Angst hatte, daß die Empfindung während des Dirigierens aus ihren Grenzen brechen könnte". „Die Wahrheit dieses schrecklichsten letzten Anti- zipando-Satzes wollte er nicht ahnen lassen!" Es scheint, als habe Mahler tatsächlich die tragischen Ereignisse geahnt, die das Jahr 1907 ihm und seiner Familie brachte: den Tod seiner älteren Tochter, der vierjährigen Maria Anna, die Demission von der Leitung