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posset" ergreift die Mezzosopranistin das Wort, schließlich entfaltet sich das Duett, das wie derum in einer Kadenz endet. Eine Wiederho lung des Orchestervorspiels schließt das Stück in stimmungsvoller Ruhe ab. Die nun folgende A-Dur-Arie „Pro peccatis suae gentis", zwei Terzinen umfassend, gehört dem Bassisten. Nach paukengrundierten, dre henden Orchesterklängen entfaltet sich zu har fenartigen Pizzicati der Streicher eine fließende Kantilene, in verhaltener Dramatik an die im Text angesprochenen Sünden der Brüder erin nernd. Von besonderem Reiz ist der fünfte Satz, F-Dur, ein reines A-cappella-Stück, ein sich stei gernder Wechselgesang von Baß und Chor, den die Chor-Bässe unisono psalmodierend an- stimmen. In seinem Verzicht auf die Instrumente wirkt er archaisierend. Der Solist ist vorwiegend rezitativisch eingesetzt. Umfangreicher ist das an sechster Stelle ste hende As-Dur-Soloquartett „Sancta mater, istud agas", welches fünf Terzinen umfaßt. Schwung- voll-arios stimmt der Tenor an, bei „Tui nati vulnerati" entfaltet sich das Stück zu einem Sopran-Tenor-Duett, bei „Fac me vere tecum flere" duettieren Baß und Mezzosopran, bei Juxta crucem tecum stare" tritt der Baß als Dritter hinzu. Erst in der fünften Terzine weitet sich die Musik durch Hinzutreten der Sopra nistin zum Quartett, das den schwungvollen Be ginn des Satzes wieder aufnimmt. Eine überaus wirkungsvolle Steigerungsdramaturgie, die den Opernmeister erkennen läßt. Im wiegenden Dreiertakt hebt die mit „An dante grazioso" bezeichnete E-Dur-Kavatine der Mezzosopranistin „Fac ut portem Christi mortem" nach Hörner- und Holzbläser-Introduktion an, zwei Terzinen musikalisch ausdeutend. Drohende Blech-Rufe nebst Pauken in düste rem c-Moll beschwören in der an achter Stelle stehenden Sopranarie mit Chor „Inflammatus et accensus" die Angstvision des höllischen Feuers. Den Gerichtstag „In die judicii" ruft der Chor in eindringlichem Unisono herbei, ehe sich bei „Fac me cruce" das Ganze nach Dur wendet, um in machtvollem C-Dur auszuklingen. Ohne Begleitung ist das die letzte Terzine umfassende Soloquartett „Quando corpus mo- rietur", nach dem g-Moll des Beginns zurück kehrend, motettisch beginnend, bei „Paradisi gloria" im Wechsel von Frauen- und Männer stimmen hochschießend und zart pianissimo ausklingend. Das „Amen"-Finale in voranstürmendem Al legro entfaltet auf den nicht zur Sequenz dichtung gehörenden Worten „In sempiterna saecula" ein höchst feuriges Chor-Fugato, des sen treibende Kraft ein Dreiton-Motiv, das auch immer wieder in der Pauke erscheint, darstellt. Es bricht plötzlich ab, das Orchester intoniert den Anfang des Werkes, der Chor flüstert sein „Amen", aber dann bricht der stretta-artige Schlußjubel los, die musikalische Besiegelung des „Paradisi gloria". Die Gegner verschreien namentlich Rossinis Musik als einen leeren Ohrenkitzel; lebt man sich aber näher in ihre Melodien hinein, so ist diese Musik im Gegenteil höchst gefühlvoll, geistreich und eindringend für Gemüt und Herz, wenn sie sich auch nicht auf die Art der Cha rakteristik einläßt, wie sie besonders dem stren gen deutschen musikalischen Verstände beliebt. Denn nur allzu häufig freilich wird Rossini dem Text ungetreu und geht mit seinen freien Melo dien über alle Berge, so daß man dann nur die Wahl hat, ob man bei dem Gegenstände blei ben und über die nicht mehr damit zusam menstimmende Musik unzufrieden sein oder den Inhalt aufgeben und sich ungehindert an den freien Eingebungen des Komponisten ergötzen und die Seele, die sie enthalten, seelenvoll ge nießen will. Georg Wilhelm Friedrich Hegel