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Eine eigenartige, ja einsame Stellung in der Musik geschichte nimmt Jean Sibelius, der Begrün der einer national-finnischen Kunstmusik großen Stils, ein. Der 1865 in Hämeenlinna (Tavestehus, Finnland) Geborene sollte eigentlich Jurist werden, studierte jedoch Musik (in Helsinki, Berlin, Wien). 1893 kehrte er wieder in die Heimat zurück und wirkte zunächst als Theorielehrer an Helsinkier Musikschulen, bis er sich, da er vom finnischen Staat ein Stipendium auf Lebenszeit erhielt, gänz lich seinem kompositorischen Schaffen widmen konn te. 37 km nördlich von Helsinki, in Järvenpää, ließ er sich 1904 in herrlichster Landschaft ein Haus bauen, in dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1957 lebte und arbeitete. Zu Sibelius’s wichtigsten Werken rechnen neben zahlreichen Liedschöpfungen, Klavierstücken, Volks liedbearbeitungen, Chören, ein Violinkonzert, die sinfonischen Dichtungen und vor allem sieben Sin fonien, die den Komponisten als größten finni schen Sinfoniker ausweisen. So sehr auch der Mei ster von der Mythologie und Natur seines Landes zum Schaffen angeregt wurde, Motive aus der Volksmusik verwendete er nirgends. Gleichwohl ist seine eigenständige, zwischen Spätromantik und neuen musikalischen Bestrebungen des 20. Jahrhun derts stehende Musik von ausgesprochen nationaler Haltung, in der Stimmung wie im Tonfall. „Die .Weise’ seines Landes fließt ihm aus dem Herzen in die Feder“, sagte Busoni, einer der ersten aus ländischen Vorkämpfer des großen Finnen. Zum Bilde Sibelius’ gehört es auch, daß er sich kurz vor und nach der Jahrhundertwende der national finnischen Freiheitsbewegung gegen die Unterdrük- kungsmaßnahmen der zaristischen Behörden anschloß. Seine berühmten Tondichtungen nach dem finnischen Nationalepos „Kalewala" oder die sinfonische Dich tung „Finlandia“ stehen in engem Zusammenhang mit diesen nationalen Bestrebungen. Zu Recht gilt Sibelius als der Vollender, überhaupt als eine der wesentlichsten Erscheinungen der romanti schen Epoche der Musikgeschichte. Die Eigenart seines elementaren, urgesunden Persönlichkeitsstiles fand kei ne Nachfolge. Das erklärt seine einsame Stellung in der Musik unserer Zeit. Während sein Stil in späteren Jah ren zu fast klassischer Klärung gelangte bei impressio nistischem Einschlag, ist das Schaffen der 90er Jahre und der Jahre um die Jahrhundertwende durch unmit telbaren Gefühlsreichtum, instrumentale Farbenglut und blühende Melodik, durch ein höchst subjektives Sturm-und-Drang-Pathos charakterisiert.