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den Leipzigern schon mehr bieten als bloß „hübsche“ Musik, auch wenn sich Wiener damit zufrieden gäben. Die Leipzi ger hätten in der neuen Symphonie kein Genie entdeckt und kaum Brahms er kannt, wenn sie ohne Namensnennung aufgeführt worden wäre. Die äußeren Umstände waren der Arbeit günstig. Brahms, der sich seine materielle Basis noch immer als Dirigent der Wiener Gesellschaftskonzerte sichern mußte, ge noß die Sommermonate als Freiraum zum Komponieren. Den Sommer 1877 ver brachte er in Pörtschach am Wörthersee, einer damals fast unberührten Gegend. „Der Wörthersee ist ein jungfräulicher Bo den, da fliegen die Melodien, daß man sich hüten muß, keine zu treten..." Brahms, ähnlich Beethoven ein unent wegter Spaziergänger, hat sich diese Symphonie buchstäblich erwandert. Sie atmet Freiluft, Sommerwärme und Natur beglückung. Eine Pastorale, wie so viele Deuter formuliert haben, ist sie deshalb aber nicht geworden. Kein einziger Takt vermag konkrete ländliche Assoziationen zu wecken, setzt zur „Tonmalerei“ an oder sinkt gar zu idyllischer Beschaulichkeit herab. Das beherrschende tiefe Naturge fühl ist zur reinen Musik sublimiert. Brahms schuf sich eine innere Landschaft als Überhöhung und Idealisierung der äu ßeren. Als größtes und bedeutendstes Werk wuchs diese Symphonie aus einer längeren Schaffensperiode, die sich in lyri sche Empfindung entspannte: der ersten Symphonie waren vier Liedergruppen ge folgt, nach der zweiten entstanden Motet ten, Balladen und Romanzen, und ganz unverkennbar ist viel Kantables in die D- dur-Symphonie eingegangen. Brahms’ Schaffenskurve schwang weg vom männlich harten, zugreifenden Yang zum weichen fließenden Yin, um einmal die Polaritäten des chinesischen Taoismus anzuwenden. Brahms’ Scheu, seine Gefühle ungeniert'-- zu zeigen, tritt hier meistens in den Hinter grund, und ihre Wohlgelauntheit könnte diese Musik der Welt der Serenade annä hern, würden nicht zwei Gegenkräfte wirksam. Zum einen wenden sich ganze Partien ins ernsthafte Aufbegehren oder ins Pathos der Nachdenklichkeit, wie die ganze Durchführung des Kopfsatzes, die sich mit manchmal derber Leidenschaft des Hauptthemas annimmt, oder - para doxerweise - der ganze langsame Satz, der Schatten in die sonstige Helle wirft: ein schwermütiges, mitunter vergrübeltes Adagio non troppo von norddeutsch her bem Geblüt. Das zweite Element, das Distanz zum Serenadengeist schafft, ist die gründliche kompositorische Durchar beitung. Kein motivischer Einfall bleibt un genutzt, keine noch so nebensächliche Phrase ohne konstruktive Absicht. Wer würde, wenn er das Werk nicht gut kennt, ahnen, daß schon der allererste Takt mit den drei Noten d - cis - d (= Grundton - Leitton - Grundton) in den Celli und Kon trabässen die motivische Urzelle der gan zen Symphonie proklamiert, den Grund baustein für viele tragenden Themen in allen vier Sätzen. „Man gewahrt den Va riationstechniker Brahms: er schreibt eine viersätzige Symphonie über ein Grundin- tervall“ (Karl Schumann). Wenn bei der Interpretation die diversen Ecken und Kanten nicht zurückgeschliffen werden, ist dies gewiß im Sinne des Komponisten, der das fast fertige Werk seinem Verleger Simrock als „liebliches Ungeheuer“ an kündigte. Kaum ein Jahr nach Beendi gung der Ersten war die Arbeit an der D- dur-Symphonie abgeschlossen, offenbar zu Brahms’ eigener, mit Selbstironie quit tierter Überraschung, denn er fand, das neue Werk sei keine SYMPHONIE gewor den, „bloß eine SINFONIE“. Seinen kauzi gen Schabernack trieb er auch mit Sim rock, dem er einen Walzer avisierte, oder mit dem Chirurgenfreund Theodor Bill- roth, den er auf „ein klein unschuldiges Stück“ neugierig machte.