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ZUR EINFÜHRUNG Dem 1918 als Sohn russischer Emigranten in Lawrence, Massachusetts, geborenen Leo nard Bernstein läßt sich eine gerade zu renaissancehafte Fülle der Begabungen und auch quantitativen Tätigkeiten nachsa gen: Komponist, Dirigent, Pianist, Pädagoge, Buchautor, Fernsehstar und Festivalanimator, Selbstdarsteller und Initiator auf den ver schiedensten Gebieten — wenn man will, ein Franz Liszt des Medienzeitalters. Musikalische Multitalente gab es gewiß mehrere, keiner aber hat die Schubkraft Bernsteins erreicht. Nach seinem Tod am 14. Oktober 1990 in New York ist die Musikwelt um ein entscheidendes Farbbündel ärmer. Mindestens zwei Generationen standen im Banne Leonard Bernsteins und haben den be deutenden amerikanischen Musiker erlebt: jenen des expressiven, um nicht zu sagen, be sessenen Interpreten, der den Subjektivismus der Darstellung bis hin zu Beethovens und Mahlers Meisterwerken auszudehnen schien, und den glühenden Musikpädagogen mit der ehrgeizigen Absicht, seine Hörer an die Mu sik heranzuführen, zu erziehen. Wer nur den Dirigenten Bernstein ernst nimmt, verkennt, was dieser große Künstler vor allem im Um gang mit der Jugend gewollt hat. Für die meisten war er der Inbegriff des Vita len, Gesunden. Seine Hoch-Sprünge am Diri gentenpult waren berühmt; und sie waren doch nur Ausdruck eines Musikenthusiasmus, über den sich allein bornierte Fachleute mokier ten. Er lebte mit der Musik, ihren Höhen und Tiefen. Ein Magier, der nichts unterließ, den physischen und psychischen Vorgang beim Mu sizieren und Hören geradezu körperlich auszu schöpfen. Er dirigierte alles auswendig, kon zentriert, subjektiv, selbstherrlich — immer über rumpelnd. Aber so gesund, so ungefährdet angesichts einer Vita, die sich zwischen New York und Salzburg kaum eine Pause gönnte, war er nun wieder nicht. Daß er leidend war, Erschöp fung ihn immer mehr zum Absagen zwang, wußte man seit längerem. Die Meldungen überschlugen sich: zuletzt Verzicht auf jegliche Dirigententätigkeit zugunsten des stillen Kom- ponierens. Gleichwohl wollte man nicht an das Endgültige denken ... Bernstein war als Dirigent eine Legende. Er studierte an der Harvard University Komposi tion bei Walter Piston sowie in Philadelphia bei Randall Thompson und Fritz Reiner und in Tanglewood bei Serge Kussewitzky Dirigie ren. Als er 1943 ohne Probe ein Konzert bei den New Yorker Philharmonikern für den er krankten Bruno Walter übernahm, begründete er seinen Weltruf als Dirigent. Bereits 1958 (bis 1969) wurde er Chef des New York Phil harmonie Orchestra. Seitdem stand ihm die Musikwelt offen, Maestrissimo von „ Fidel io" bis „Tristan", Mozart, Brahms, Mahler. Er wollte und konnte alles. Selbst kluge Bücher schreiben. Unvergessen auch die denkwürdi gen Aufführungen der 9. Sinfonie Beethovens in beiden Teilen Berlins Weihnachten 1989, die er dem Fall der Mauer gewidmet hatte (und an denen der Philharmonische Kinder chor Dresden teilnahm). Schwebte ihm nicht zeitlebens die Versöhnung von großer und unterhaltender Musik, von E und U vor? Wie Mozart in der „Zauberflöte" Gelehrtes und Populäres zusammenband, so wollte auch der Dirigent der „Missa solemnis" als Komponist des zündenden Welterfolg-Mu sicals „West Side Story" (1957) Farbe beken nen. Nicht wenige kennen und schätzen nur diesen Musical-Bernstein. Jedes seiner Wer ke, ob Musical, Oper, Sinfonie, Kammer- oder Filmmusik, zeigt starke tänzerische Impulse. Die literarische Vorlage des 1956 am Broad way herausgekommenen Musicals „ C a n d i - de" ist der 1758 erschienene Roman „Can- dide oder Der Optimismus" von Voltaire, ein satirischer Angriff dieses zu den bedeutend sten Repräsentanten der französischen Auf klärung gehörenden Philosophen und Schrift stellers auf die These des deutschen Philoso phen Leibniz von der „besten aller Welten". Während die Mängel des Textbuches zur Ab setzung des Stückes nach 72 (!) Vorstellungen führten, was am Broadway einem Mißerfolg gleichkam, hielt es der Kritiker Robert Cole- man für ein „bemerkenswertes Musical": Es habe einen bizarren Humor, eine kunstvolle Anmut und eine wunderbare Musik (wovon die Ouvertüre heute zeugen möge). Bern steins Partitur erhielt überhaupt viel Lob, sie wurde als „kapriziös und geistreich" gewür digt. Deshalb kam es 1973 zu einer Wieder aufführung, für die ein neues Buch geschrie ben wurde. Die Neufassung wurde ein durch schlagender Erfolg.