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Scharfblick des nicht selbst Verstrickten diagno stizierte er an Werken seiner Kollegen Nono, Boulez, Stockhausen, Pousseur, daß die Logik des seriellen Verfahrens in eine Sackgasse ge führt hatte, aus der sich kein Ausweg im Sinne kontinuierlicher Evolution mehr zeigte. Und aus solcher zunächst theoretisch formulierten Kritik, die in Kreisen der Avantgarde nahezu schock hafte Reaktionen auslöste, entwickelte er sein sehr persönliches Konzept kompositorischen Neubeginns. „Beim Komponieren der „Apparitions" (1958/ 59), schrieb Ligeti im Uraufführungskommentar, „stand ich vor einer kritischen Situation: Mit der Verallgemeinerung der Reihentechnik trat eine Nivellierung in der Harmonik auf; der Charakter der einzelnen Intervalle wurde im mer indifferenter. Zwei Möglichkeiten boten sich, diese Situation zu bewältigen: entweder zum Komponieren mit spezifischen Intervallen zurückzukehren oder die bereits fortschreitende Abstumpfung zur letzten Konsequenz zu treiben und die Intervallcharaktere einer vollständigen Destruktion zu unterwerfen. Ich wählte die zweite Möglichkeit. Durch die Beseitigung der Intervallfunktion wurde der Weg frei zum Kom ponieren von musikalischen Verflechtungen und Geräuschstrukturen äußerster Differenzierung und Komplexität. Formbildend wurden Modifi kationen im Inneren dieser Strukturen, feinste Veränderungen der Dichte, der Geräuschhaftig- keit und der Verwebungsart, das Einander ablösen, Einanderdurchstechen und Ineinan fließen klingender .Flächen' und .Massen'. Zwar verwendete ich eine strenge Material- und Formorganisation, die der seriellen Kom position verwandt ist, doch war für mich we der die Satztechnik noch die Verwirklichung ei ner abstrakten kompositorischen Idee das Wichtigste. Primär waren Vorstellungen von weitverzweigten, mit Klängen und zarten Ge räuschen ausgefüllten musikalischen Labyrin then." Diese Einführung ist für Ligetis Stil, seine Denkweise und Arbeitsmethode in zweifacher Hinsicht bezeichnend. Zum einen verweist sie auf eine spezifische Begabung, außermusikali sche Phänomene — zumal optische und taktile Reize — in akustische umzusetzen, zu Farben, Formen und Materialien Klänge zu assoziieren: solcher Hang zur Synästhesie durchdringt Lige tis Komponieren bis ins Detail, verleiht seiner Musik — fernab aller tondichterischen Pro grammatik - eine Aura von Plastizität und Bild haftigkeit, etwas unmittelbar Einleuchtendes. Zum anderen aber belegt diese Notiz, daß Li geti, wo er kritische Einsicht dingfest gemacht hat, mit Mut und untrüglichem Spürsinn das konzessionslos Neue suchte. Das zeigt, deutlicher noch, das folgende kurze, im Auftrag des Südwestfunks Baden-Baden ge schriebene Orchesterstück „Atmosphe- res ", das seit dem Sensationserfolg der Ur aufführung unter Hans Rosbaud bei den Do- naueschinger Musiktagen 1961 nichts von sei ner frappierenden Wirkung eingebüßt hat. „Apparitions" ist noch von einer Art rudimen tären Entwicklungslogik bestimmt: Vor dem dichtgefügten Klanggrund zeichnen sich (der Titel verweist darauf) „Erscheinungen" ab, die jäh aufzucken, leuchten, verlöschen — Impulse, die den scheinbar stagnierenden Klang un merklich modifizieren. „Atmospheres" tilgt selbst den Schein solcher Wechselwirkung. Li geti hatte hier sein Vokabular noch strenger gesichert und alle insgeheim traditionellen Formrelikte ausgemerzt. Er verzichtete völlig auf Intervallprägnanz, rhythmisches Profil, durchhörbare Zeichnung und konzentrierte sich auf die Komposition des Klangs selbst, seiner Farbigkeit und seiner Dichte, seines äußeren Volumens und seiner internen Textur. Aus der Verflechtung einer Vielzahl (die Partitur um faßt 87 Systeme) von gesondert geführten, aber minuziös ineinander verzahnten Stimmen resul tiert eine „übersättigte" polyphone Struktur von irisierender Statik. Ligeti hat für diese Satztechnik den Terminus „Mikropolyphonie" geprägt. Das ganze Stück besteht sozusagen nur noch aus „Hintergrund", aus einem gleich mäßig den ganzen Kiangraum ausfüllenden, äußerst feinfaserigen Gewebe. Die allgemeine Wertschätzung, die Ligeti heute genießt, leitet sich zu einem nicht geringen Teil von diesem Orchesterstück her, dessen frappante Wirkung sich seit der Uraufführung stets aufs neue bestätigte. Ein scheinbar ste hender vieltöniger Clusterklang (d. h. ein dich ter Block benachbarter Halbtöne) gerät all mählich in Bewegung, variiert schrittweise sei ne Klangbreite und verlagert sich bis in extre me Höhen und Tiefen. Dabei gewinnen Dy namik und Klangfarbe als Folge der Cluster intensität eine in diesem Ausmaß bisher nicht bekannte formbildende Kraft. Nicht mehr indi viduelle Stimmen und isolierte Instrumental farben lassen sich unterscheiden, sondern nur noch kompakte Stimmbündel. Eine Vielzahl von Einzelelementen summiert sich zu flimmernden und changierenden Klangflächen, die dem Hö rer Assoziationen zu sphärischen Vorgängen geradezu aufdrängen. Besondere Spannungs punkte der aus 22 direkt verbundenen Ab schnitten bestehenden Partitur: ein Abstürzen