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ZUR EINFÜHRUNG Jean Sibelius begann mit der Arbeit an seiner 4. Sinfonie a-Moll op. 6 3, die von der Sibelius-Forschung als der Gipfelpunkt seines gesamten sinfonischen Schaffens ange sehen wird, im Frühling des Jahres 1910. Die Partitur gewann nur langsam Gestalt, sie be gleitete den Komponisten auf seinen Reisen, als er in Norwegen, in Berlin und Leipzig und schließlich — im Februar 1911 — in Göteborg, Riga, Libau und wieder in Berlin dirigierte. Als Sibelius in die Heimat zurückkehrte, war die Sinfonie vollendet. Im April 1911 fand die Uraufführung in Helsinki statt. Doch Kritik und Publikum verhielten sich zurückhaltend — erst viel später fand die schwermütige Grübelei und introspektive Kontemplation des Werkes verdiente Würdigung und Anerkennung; in un seren Konzertsälen freilich ist die Sinfonie wie so manches Meisterstück des großen Finnen bis heute so gut wie unbekannt geblieben. Die 4. Sinfonie gehört Sibelius' zweiter Schaf fensperiode an, in der sich gegenüber dem vorausgegangenen Schaffensabschnitt der Wil le zu immer größerer Einfachheit und Spar samkeit der Ausdrucksmittel, zu strengerer Be grenzung der orchestralen Kräfte und zur Kon zentration der Form durchsetzte. Die eruptive Leidenschaft etwa der - bei uns verhältnismä ßig bekannten - 1. und 2. Sinfonie ist in der „Vierten" reifer Selbstbeherrschung und subti ler Zurückhaltung gewichen. Der Komponist bringt die geheimsten Stimmen seines Inneren zum Tönen. Eine einzigartige, tief ergreifende Ausdruckskraft kennzeichnet die Sinfonie, de ren Instrumentation sich aller äußerlicher Ef fekte begibt (weswegen man sie auch die „Bor kenbrotsinfonie" genannt hat). Was Richard Strauss gleichzeitig im Bereich des Musikdramas durchführte, verwirklichte Sibelius auch in seiner 4. Sinfonie: betonter Ausdruck des Individuums und der Selbstanalyse. Indem der Finne damit einen letzten Gipfel der Ro mantik schuf, die künstlerischen Ziele eines ver sinkenden Zeitalters zuspitzte und komprimier te, bot er zugleich erstmalige und überraschen de Ausblicke auf Neues. Wie in der „Elektra" von Strauss (1909) führte Sibelius in der „Vier ten" das Tonmaterial an die Grenze der Tona lität. Der Komponist arbeitete hier nicht mehr mit deutlich abgegrenzten Themen, sondern mit entwicklungsträchtigen, thematischen Keimzel len. Diese thematische Zelle, wie sie sich in den vier Tönen der Einleitung im Umfange einer übermäßigen Quarte äußert, geht durch das ganze Werk und bestimmt die nach organi schen Gesetzen wachsende sinfonische Form — ein Arbeitsprinzip, das den Komponisten un serer Zeit viel gegeben hat. Neben den for malen Überraschungen ist für die 4. Sinfonie noch eine eigentümliche, die Taktstriche aus löschende, stark synkopierte Rhythmik charak teristisch. Die Tritonus-Spannung der themati schen Keimzelle schafft einen einzigartigen Zu sammenhang der vier Sätze der Sinfonie. Knapp und wesentlich ist der langsame erste Satz angelegt, der wohl kein Gegenstück in der Orchesterliteratur hat. Das Solocello führt das Hauptthema ein, dessen Grundstimmung bittere Einsamkeit und Grübelei ist. Die nach folgenden Sätze stehen nicht nur in einem formalen Zusammenhang zum ersten, sondern weisen auch eine innere Verwandtschaft in der Stimmung auf, ohne daß die thematische Selb ständigkeit der einzelnen Teile aufgegeben wäre. Besonders typisch für Sibelius' sinfoni schen Stil ist das Finale, in dem kleine „Me lodiesplitter" und Motive eingeworfen werden, die ganz allmählich zu einer organischen Ganz heit verwachsen. Mit der Uraufführung des Orchesterstücks „Apparitions" beim Kölner Weltmusikfest der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) 1960 rückten Person und Werk des Komponisten György Ligeti erstmals in den Brennpunkt neuerer Musikgeschichte. Die Premiere trug alle Anzeichen des Ungewöhn lichen. Ungewöhnlich nicht nur, daß da ein Siebenunddreißigjähriger „debütierte", ein Komponist von umfassender Metierkenntnis und langjähriger Unterrichtspraxis, zudem ein Theo retiker und Volksmusikforscher von Rang. Un gewöhnlich auch, daß einer, der bereits ein CEuvre von über siebzig Titeln (Klavierstücke, Lieder, Chöre, Kammer- und Orchestermusik) vorweisen konnte, unter willentlicher Verleug nung des bisher Geschaffenen einen neuen Anfang wagte. Ungewöhnlich schließlich, daß ein Außenseiter, ein Emigrant, ein Neuling im Kreis der „Darmstädter/Köiner Schule" mit so viel Selbstbewußtsein wie Entdeckerfreude und Risikobereitschaft antrat, die etablierte Avant garde das Staunen zu lehren. Der historische Zeitpunkt war freilich überaus günstig. Als Li geti 1956 aus Ungarn in den Westen kam — seit 1959 lebte er mit österreichischer Staats angehörigkeit in Wien, 1973 übernahm er die Leitung einer Kompositionsklasse an der Ham burger Musikhochschule —, hatten Theorie und Praxis der seriellen Musik ihren Höhepunkt rigider Dogmatik bereits überschritten. Mit dem