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Der österreichische Geiger THOMAS CHRISTIAN, 1951 in Linz geboren, erhielt ersten Violin- unterricht im Alter von 7 Jahren. Als 11jähriger ge wann er bereits den 1. Preis des österreichischen Gei gerwettbewerbes. Später wurde er Schüler der New Yorker Violinpädagogen Theodore und Alice Pashkus. Schon früh begann seine internationale Solistenkar riere mit Auftritten in vielen Ländern Europas, denen sich — nach seinem Amerika-Debüt von 1970 in der New Yorker Carnegie-Hall — inzwischen mehrere USA-Tourneen sowie Gastspiele in Japan und im Mittleren Osten anschlossen. Auch für Funk und Schallplatte (Spohr, Vieuxtemps, Paganini u. a.) machte er mehrere Einspielungen. 1978 79 vervoll- kommnete er sein Können als Stipendiat in der Mei sterklasse von Jascha Heifetz in Los Angeles. Mit der Dresdner Philharmonie musiziert Thomas Christian seit 1979. ZUR EINFÜHRUNG Im Mai 1922 bezog Maurice Ravel die Villa Le Belvedere in Montfort l’Amaury, einem kleinen Dorf westlich von Paris. Das Interieur des Hauses: phantastische, ebenso wie die Ornamente auf dem Marmor des Kamins vom Komponisten selbst entworfene Tapeten, zier liche Möbel im Stil der arts decoratifs des Fin de siede, und eine immer größer werden de „Sammlung von Fälschungen" (Helene Jourdan-Morhange) über alle Räume verteilt: Porzellan, eine mechanische Nachtigall mit Spielwerk, Chinoiserien, auf dem Flügel — von zwei schweren Metallampen mit ziselierten Milchglaskugeln in diffuses Licht getaucht — ein Glassturz, unter dem Schiffe sich auf ei nem Meer von Muscheln, Blumen und See sternen zu wiegen schienen. Nicht anders der Garten dieser gewaltigen Spielzeugschachtel: ein mit Bonsais und ähn lichen Zwergpflanzen kunstvoll hergerichteter Mikrokosmos, in dem sich der nur einen Me ter achtundfünfzig große Komponist wie ein neuzeitlicher Gulliver vorgekommen sein mag, ein geheimnisvoller Jardin feerique — ein Zau bergarten, wie ihn das Finale der Suite „Ma mere l'oye" beschwört. In dieser Zauberwelt von Le Belvedere liegt der Schlüssel zu Ra- vels Wesen verborgen. Scheu und hypersensi bel, fernab von der Klarheit und Kraft eines Debussy, schuf sich Ravel ein mystisches Reich, in dessen Schutz er in den Träumen eines Kin des versank, aus denen seine Musik entspringt. Die reale Welt, die Welt tradierter musikali scher Formen und Sprachen, erfährt in den Spiegeln dieses „künstlichen Paradieses" zahllose prismatische Brechungen. Wenn zum Beispiel Vincent d’lndy — der Doyen des fran zösischen Klassizismus — in einer „Suite dans le style ancien" op. 24 (1886) ein Menuett ein fügt, so ist dieses Menuett ein Menuett, nichts weiter. Wenn aber Ravel (in Anlehnung an Emanuel Chäbriers „Menuet pompeux" von 1881, das er 1919 orchestriert hat) ein „Me nuet antique" komponiert (1895 für Klavier, 1929 für Orchester bearbeitet), so ist es nur mehr das Zerrbild eines Menuetts: scharfe Dis sonanzen, überzeichnete Akzentuierungen, ab bröckelnde Phrasen, „falsche" Harmonien; die klar gegliederte ABA-Form und die pseudo antike Klangwelt des natürlichen Moll sind blo ße Fassade. Ebenso „falsch" ist die Archaik der „Pava ne pour une infante defunte", die Ravel 1899 im Auftrag der Fürstin Edmond de