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berichtet Johannes wie im Original nur kurz, um aber um so eindringlicher darzulegen, daß die Weltenwende angebrochen sei, daß nun mehr eine neue Erde jene trage, die das ewige Leben haben und daß ein neuer Himmel über ihnen blaue. Und der Herr spricht zu den Ge läuterten, daß er mit ihnen wohnen und sie seine Kinder sein und er ihr Vater sein werde. Nachdem die Geläuterten dem Herrn mit Hal leluja gedankt und gehuldigt haben, schließt Johannes seine Offenbarung mit einer kurzen, erläuternden Abschiedsansprache ab. Ich habe mich also, mit Ausnahme der oben einbekannten Elision (Auslassung), genau an das Original gehalten und habe zu dem Werk einzig vom Standpunkte des tiefreligiösen Menschen und des Künstlers aus Stellung ge nommen. Diese Stellungnahme mag auch manche Freiheit in der Auffassung erklären; so zum Beispiel, daß ich Johannes, der zur Zeit der Abfassung der Apokalypse ein hochbetag ter Greis war, als jungen Mann auffasse und komponiere, dessen Musik mit dem Tempera ment eines solchen interpretiert, über die Mu sik selbst seien mir lediglich einige das For male betreffende Bemerkungen gestattet. Da der Text die Funktion hat, das Knochenge rüst der Komposition abzugeben und somit nicht nur die äußeren Konturen des Werkes bestimmt, sondern auf das Wachstum aller sei ner Organe maßgebenden Einfluß nimmt, so erscheint die vokale Komponente des Werkes als die primäre seiner Gesamtentwicklung. Ich war nun bestrebt, von diesem Gesichtspunkte aus die künstlerischen Aufgaben auf alle am Aufbau des Werkes mitarbeitenden Kräfte in möglichst gleichem Maße zu verteilen. Daraus folgt zum Beispiel, daß dem Orchester zwar durchaus keine untergeordnete, aber auch keine prävalierende (vorherrschende) Rolle zu fällt. Es begleitet durchgehend in hochdrama tischem Stil, hat auch gelegentlich tonmale rische Aufgaben zu lösen; dagegen hat es keine selbständigen sinfonischen Sätze, wie Vor- und Zwischenspiele auszuführen; diese habe ich vielmehr der Orgel zugeteilt, die in diesem Werke grundsätzlich als souveräner Klangkörper behandelt wird und nicht etwa bloß im Orchester mitwirkt. Die Disposition der Gesangspartien ist in großen Zügen folgende: Johannes, der zwi schen den beiden musikalisch gleichlautenden Ansprachen (Begrüßung und Abschied) seine Offenbarung vorträgt, wird darin von den vier Solisten und den Chören, die teils als han delnde Personen, teils als Miterzähler eingrei fen, unterstützt. Von den Solopartien ist die Stimme des Herrn (Baß) die prominenteste. Sie ertönt dreimal: gleich zu Anfang zur Be rufung des Johannes, dann im ersten Teil zur Besänftigung des Aufruhrs im Himmel und endlich im zweiten Teil zur Verkündigung der Heils- und Gnadenbotschaft. Außer diversen Quartett- und Ensemblesätzen (als Engel und dergleichen) haben die Solisten im ersten Teil zwei Duoszenen auszuführen, und zwar die von Mutter und Tochter (Sopran und Alt) und die der beiden überlebenden auf dem Lsjk chenfelde (Tenor und Baß). Die Chöre, üflP das ganze Werk verteilt und verschiedenartig beschäftigt, haben folgende wichtige selb ständige Sätze auszuführen: Im Prolog die Vision des Lammes (mit Tenorsolo), weiter hin Schlußchor. Im ersten Teil: ,Der König der Könige'; der Krieg; der Aufruhr im Himmel; der Weltuntergang. Im zweiten Teil: der Ap pell zum Jüngsten Gericht (Quadrupelfuge) und endlich das Hallelujah. Diese knappen Andeutungen dürften genü gen, um das Verstehen des Werkes beim er sten Hören zu erleichtern; und wenn es meiner Vertonung gelingt, diese beispiellose Dichtung, deren Aktualität jetzt, nach achtzehneinhalb- hundert Jahren so groß ist, wie am ersten Tage, dem Hörer von heute innerlich nahe bringen, dann wird dies mein schönster Lohn sein." Die Uraufführung fand am 15. Juni 1938 zur Feier des 125. Gründungsjahres der Gesell schaft der Musikfreunde in Wien unter der Leitung von Oswald Kabasta statt. Es wurde ein großer Erfolg für den vom Tod gezeichne ten Komponisten. „Das Buch mit sieben Si^B geln" hatte es zunächst schwer, sich außerhalb Österreichs durchzusetzen. Immerhin aber be trachtete es die Gesellschaft der Musikfreunde als Verpflichtung, das ihr gewidmete Werk re gelmäßig aufzuführen. Josef Krips dirigierte 1954 die amerikanische Erstaufführung in Cin- cinatti, die Salzburger Festspiele setzten es 1958 erstmals auf ihr Programm, zuletzt 1989, zum 50. Todestag Franz Schmidts. In den letz ten Jahren hat es in Deutschland, England und vor allem in den USA etliche Aufführungen gegeben. In Dresden erklingt das Werk zum ersten Mal. Es ist die zweite Aufführung in der DDR nach einer Aufführung 1983 in Leipzig, damals gleichfalls unter Leitung von Jörg-Pe- ter Weigle. „Das Buch mit sieben Siegeln" ist trotz der biblischen Vorlage kein liturgisches Werk. Das Schorlemmer-Zitat zu Beginn verweist auf die überzeitliche Gültigkeit der Apokalypse-Pro phetie in der Johannes-Offenbarung, wie sie auch aus Albrecht Dürers bekannter Holz schnittfolge spricht. Nahezu zwei Jahrtausende ist die Menschheit durch die Plagen von Kata strophen, Seuchen, Kriegen, Vernichtung und Tod geschüttelt worden. Immer und immer wieder aber haben Glaube, Hoffnung, Liebe, haben Mut, Zuversicht, Stärke und Tatkraft einzelner und vieler die Menschheit überleben und zu Großem fähig sein lassen. Gerade heu te und hier, in unserer Zeit, in der sich ein un lösbar geglaubter gordischer Knoten zu lok- kern beginnt, in der jeder einzelne aufgerufen ist, den Knoten neu zu knüpfen, daß er zwar alle einbindet, aber jedem Atem läßt — nicht nur den Menschen, auch der Natur — gerade jetzt vermag uns das Nacherleben von Schil derungen und Reflexionen derart philosophi scher Dimension, nahegebracht durch die sug gestive Kraft der Musik, anzurühren, aufzu rütteln und zum Tätigsein anzuregen.