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FRANZ SCHMIDT - „DAS BUCH MIT SIEBEN SIEGELN" Da sind die drei großen Herausforderungen, in denen sich alles zusammenfassen läßt: Wie werden wir erstens mit dem Hunger fertig auf dieser Welt, wie leben wir so, daß wir nicht auf Kosten anderer leben? Wie werden wir zwei tens unsere eigenen lebensbedrohenden Pro dukte los, das ist die Frage des Zauberlehr lings. Und wie schützen wir drittens unsere Umwelt? Gerechtigkeit, Frieden, Naturbewahrung müs sen die übergeordneten Fragen bleiben, die aber nur dann von Menschen angenommen werden, wenn sie in die eigenen Lebensfragen übersetzt sind, vor denen jeder einzelne heute steht. Friedrich Schorlemmer In Preßburg am 22. Dezember 1874 geboren, hatte Franz Schmidt deutsche, vor allem aber ungarische Vorfahren. Ungarisch war sei ne Muttersprache, doch wurde im Elternhaus ebenso deutsch und slowakisch gesprochen. Die musisch interessierten Eltern mögen ihr Kulturverständnis aber, wie es damals in der Gesellschaft üblich war, durchaus am Kultur leben der nur knapp 60 km entfernten Haupt stadt Wien orientiert haben. Wien wurde dem 14jährigen Franz Schmidt dann zur Heimat, in Wien besuchte er Gymnasium und Musik akademie und studierte Klavier, Violoncello und Komposition. Als Cellist, zeitweise sogar am ersten Pult, saß er ab 1896 im Hofopern orchester und erlebte die glanzvolle Opern direktion Gustav Mahlers aus nächster Nähe. Die Wiener Philharmoniker, denen er bis 1914 angehörte, führten die ersten sinfonischen Werke ihres Kollegen auf, für philharmonische Ensembles entstanden seine Kammermusik werke. Auch später, als Instrumental- und Kompositionslehrer an der Musikhochschule, der er auch etliche Jahre als Rektor vorstand, blieb Schmidt der Praxis verbunden; er pfleg te regelmäßig Kammermusik zu spielen, trat als Dirigent auf und scharte eine große Zahl von Schülern um sich. Seine letzten Lebens jahre standen im Schatten seines schlechten Gesundheitszustandes, der zu immer größeren Pausen zwang und zu ständiger Todesangst führte. Am 11. Februar 1939 ist Franz Schmidt in Perchtoldsdorf bei Wien gestorben. Als Komponist kam Franz Schmidt durchaus aus der österreichischen Tradition, doch läßt sich sein Stil nicht, wie das gerne geschehen ist, auf die Nachfolge von Brahms und Bruck ner festlegen. Eher scheint der kurzzeitige Schüler von Robert Furchs und Ferdinand Hell- mesberger auf eigene Art jene romantische Erweiterung des klassischen Form- und Musik begriffs betrieben zu haben, die von Schubert her bis in die österreichische Musik des 20. Jahrhunderts weiterwirkt. Mit Schubert ver band ihn auch, wie Andreas Liess es formu liert, „die Naturhaftigkeit einer wahrhaft er staunlichen, unmittelbaren Begabung, die JL' gesamtes Können nicht mühsam erarbe^P mußte, sondern einfach besaß". Sowohl in der Kammermusik als auch in seinen sinfonischen Werken führt diese unmittelbare Begabung zu einer Eigenständigkeit, zu einer im Rahmen der spätromantischen Tradition durchaus per sönlichen Farbe. Das gilt auch für den Orgel komponisten, der, ähnlich wie der um ein Jahr ältere Max Reger, von der strengen Kontra punktik in neue harmonische Bereiche vorstieß. In seinen beiden Opern — „Notre Dame“ und „Fredigundis" — teilt Schmidt das Schicksal vieler seiner Zeitgenossen, kein zwingendes Rezept gegen die Übermacht Richard Wagners gefunden zu haben. Allerdings ist das Zwi schenspiel aus „Notre Dame" zu einem der Musik-Bestseller avanciert. Im selben Jahr wie Arnold Schönberg gebo ren, findet sich zwar Franz Schmidt mit die sem in ähnlicher musikalischer Ausgangssitua tion — erinnern wir uns an die „Gurrelieder“, die die Dresdner Philharmonie zu den Dresd ner Musikfestspielen 1986 vorstellte —, doch demonstrieren diese beiden Komponisten die divergierende Entwicklung, die die Musik zu Beginn unseres Jahrhunderts genommen hat. In seiner Vertonung der Apokalypse aus de^h letzten Buch der Bibel, der Offenbarung d^r Johannes, in seinem „Buch mit sieben Siegeln", ist es Franz Schmidt gelungen, an die große Oratorientradition anzuknüpfen und doch etwas unvermittelt Eigenes zu schaf fen. Sicherlich hat das auch mit der besonde ren Situation zu tun, aus der dieses Werk ent standen ist. Einerseits lag etwas von „Endzeit“- Ahnungen in der Luft — auf ganz andere Wei se hat zur selben Zeit Karl Kraus versucht, die Vorahnung kommender Katastrophen in den „Letzten Tagen der Menschheit“ zu bewälti gen -, andrerseits bedrängten den Komponi sten persönlich letzte Fragen. Er hat das Werk auch als sein „summum opus" und als Ab schluß seines Lebens angesehen. Kein Zweifel: es ist ein Werk der Synthese. Oratorisches im Rückgriff — bis zum klassischen Vorbild Joseph Haydns — und Konzertantes im Sinn der großen konzertanten Requiem-Verto nungen des 19. Jahrhunderts; die Formenspra che, ja sogar Stilzitate katholischer Kirchenmu sik — bis zurück zur Gregorianik — und opern- hafte Dramatik in den unerhört kühnen Bil dern des Jüngsten Gerichts erscheinen unter dem Gestaltungsanspruch des Vorwurfs zu zwingender Einheit verbunden, über die An lage des Werkes und seine künstlerischen und kompositorischen Absichten hat Franz Schmidt »Ibst anläßlich der Uraufführung Auskunft •geben: „Meines Wissens ist mein Versuch, die Apoka lypse zusammenhängend zu vertonen, der er ste, der bisher unternommen wurde; einzelne dazu besonders geeignete Stellen wurden al lerdings schon wiederholt komponiert. Als ich an diese Riesenaufgabe herantrat, war mir klar, daß die Voraussetzung dazu darin lag, den Text auf eine Form zu bringen, die alles Wesentliche womöglich dem Wortlaute nach beibehielt und dabei die geradezu unüberseh baren Dimensionen des Werkes auf durch schnittlichen Menschenhirnen faßbare Maße brachte. Dabei sollte der Bau in seinen äuße ren Umrissen und inneren Zusammenhängen intakt bleiben. Mit Ausnahme des Umstandes, daß ich die Briefe des Johannes an die sieben Gemeinden zu einer Begrüßungsansprache ver einigte, hielt ich mich zunächst ganz an das Original; die Berufung des Johannes durch den Herrn, sein Erscheinen vor dem Thron, die Huldigungszeremonie, das Buch in der Hand des Herrn, die Vision des Lammes, das Ent gegennehmen des Buches durch das Lamm, all dieses ist beinahe im Wortlaut dem Origi- kal nachgebildet. Der anschließende kurze ankgottesdienst rundet den Akt zu einem .Prolog im Himmel' ab. Der nun folgende erste Teil des Werkes bringt die Lösung der ersten sechs Siegel durch das Lamm: die Geschichte der Menschheit wird voraus erzählt. Nach segens- und hoffnungs reicher Ausbreitung der christlichen Heilslehre durch den weißen Reiter (Jesus Christus) und seine himmlischen Heerscharen verfällt die Menschheit in Nacht und Wirrsal; der blutrote Reiter überzieht die Welt mit seinen höllischen Heerscharen und stürzt die Menschheit in den Krieg aller gegen alle. Der dritte (schwarze) und der vierte (fahle) apokalyptische Reiter führen weiterhin die Folgen des Weltkrieges vor: Hungersnot und Pest. Die Menschheit ist zum größten Teil zugrunde gegangen und in Verzweiflung versunken: nur ein kleiner Rest hält noch am Glauben fest. Beim Aufbrechen des fünften Siegels treten die Seelen der Glaubensmärtyrer und anderer Opfer mensch licher Verbrechen in Erscheinung. Sie rufen nach Gerechtigkeit und Vergeltung. Der Herr heißt sie noch ausharren und verspricht ihnen Gerechtigkeit am Tage des großen Gerichtes. Da der größte Teil der noch übrigen Mensch heit auch weiterhin in Sünde und Verstocktheit verharrt, vertilgt sie der Herr durch Erdbeben, Sintflut und Weltbrand, was durch das Auf brechen des sechsten Siegels offenbar wird. Damit schließt der erste Teil. Die sich hier er gebende Cäsur bot die einzige Gelegenheit, das im Original nunmehr wie ein Ozean al les überflutende Material in eine vertonbare Form zu bringen. Johannes führt nämlich von hier an in zahllosen Varianten und Wiederho lungen von Gleichnissen und Bildern in unge heurer Steigerung seinen Kampf gegen den Sündenpfuhl Babylon (gemeint ist das dama lige kaiserliche Rom) bis zu dessen völliger Vernichtung, um den endgültigen Sieg des Christentums in der Vision von dem neuen Jerusalem aufzuzeigen und zu verherrlichen. Ich habe es nun gewagt, die beiden ersten Faktoren der Antithese Babylon — Jerusalem, Heidentum — Christentum, Verworfenheit — Tugendhaftigkeit usw. samt allem darauf be züglichen Material auszuscheiden. Die funda mentale Antithese hat dadurch meinem Emp finden nach an Kraft und Bedeutung nichts eingebüßt, dafür aber wurde durch die enor me Abbürdung von Material der Bau eines proportionierten zweiten Teiles, und zwar ganz im Sinne des Originals, möglich. Der zweite Teil beginnt mit der großen Stille im Himmel, die beim öffnen des siebenten Siegels eingetreten ist. Während dieser Stille erzählt uns Johannes gleichsam in Parenthese (Einschaltung, Einschub) die Geschichte des wahren Glaubens und seiner Kirche von der Geburt des Heilands angefangen, von ihren Kämpfen gegen die Anhänger des Teufels und deren falsche Lehren und von ihrem endgülti gen Sieg. Nach dem großen Schweigen im Himmel, das bis an das Ende aller irdischen Zeit während anzunehmen ist, rüsten die sieben Posaunen engel zum Blasen des schauerlichen Appells für das Jüngste Gericht, über dieses selbst