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258 svng wälzte sich der ungeheure Menschenstrom durch die Augustusstraße, und immer drohender wurde die Stimmung, das Geschrei schallte weithin von Yem Freiplatze vor dem Schlosse, bis endlich die ernstlichen militärischen Maaßregeln dem Tumulte gegen die zehnte Nachtstunde ein Ende machten und reitende Patrouillen in geschlossenen Gliedern die Straßen durchsprengend, den Rest der tollsten Schreier verjagten. Das französische Militair la gerte'der Vorsicht willen in den Straßen unter Waffen, und eine Menge Arrestanten vom Civil warteten ihres Schicksals. Der alte Meister Hildebrand schob sein Sam- metkäppchen einigemal unruhig auf dem in Ehren ergrauten Haupte hin und her und sagte, einen Blick auf seine Frau werfend: „Ich denke, Sa lome, wir möchten noch ein Viertelstündchen war ten, Vetter Leo ist noch nicht da, hat heute die Arbeit für den ganzen Nachmittag geschwänzt — 's iss nichts mit dem Mosje, hat eher zu 'nem Lasidstrercher als zu einem ehrbaren Frauenschnei- der Ingenium." „Na, na, Vater, 's ist 'n junges Blut, man muß.solch' jungen Leuten doch dann und wann Lurch die Finger sehen, will auch einmal gucken, wie's. draußen steht," entschuldigte die Meisterin. „Bin auch Gefell gewesen, aber n' gottesfürch tiger, nicht solche Ludeleis, wie sie jetzt sind. Aus der Werkstatt ging's in die Herberge, man genoß da eine Lahse Bier und hörte die Zugereisten er zählen. Wenn's halb Zehn war, da drückte sich Jeder in seine Schlafstelle. Und Sonntag Nach mittags ein Spaziergang mit der Jungfer Liebsten, da war Alles in Züchten und Ehren; aber jetzt! ich sag's und 's ist wahr, die Schneider sind durch Len Krieg ganz verwildert." Der alte ehrbare Meister, der seine Profession so hoch schätzte und dem man es im ganzen We sen a'nfah, baß Ehre und Reputation bei ihm je- Vdrzeit die.Hauptleiter gewesen und er seinem stren- gm Character nach gewiß nie, wie man zu sagen pflegt, über den Strang geschlagen habe, ging ärgerlich auf- und nieder, immer das Käppchen hin- und herschiebend. „Geh zu Bett, Liesel, bist schläfrig," sagte ,er endlich, auf seine junge hübsche Enkelin blickend. „Wenn's d.er Großvater erlauben wollte, möchte ich noch warten, bis . . ." „Wir mitgehen, meinethalben," unterbrach sie der Alte, und als ob eine milde Regung sein är gerlich Gemüth besänftige, sagte er, das hübsche Kind auf die Backen klopfend: „Bist mein gut Liesel, und 's thut mir leid, daß ich 'n armer Mann bin, der Dir dereinst nichts hinterlassen kann. Verdienst cs wenigstens Burch Deine Liebe an uns, hast uns noch keinen Aerger gemacht, und bist fromm und gottesfürchtig. Bleib so, mein Herz liesel, der liebe Gott wird Dich auch nicht-.verlas sen, wenn ich und die Großmutter einmal die Augen zugethan haben werden." „Behalt für den Fall immer mein Leiblied im Sinne: „Wer nur den lieben Gott läßt walten und hoffet auf ihn allezeik," merkte Frau Salome an. „Das ist ein gar christlich frommes Lrostlied in aller Angst und Noth, und wem da nicht 's Herz voll Hoffnung und leichter von Gram wird, das muß ein Heide sein." Jetzt polterte es auf der Treppe eilfertig herauf. „Das ist der Vetter Leo!" rief Lieschen lebhaft. In der That war es der junge Gesell, aber sein Aussehen war verstört und erhitzt. „Nu, Mosje," hob der alte Meister an, „wo sind wir denn gewesen? Maulaffen feilgehalten. He? schickt sich das für einen rechtschaffenen Schnei dergesellen, daß er bei Aufruhr und Tumult seine Nase mit hineinsteckt? Wenn sie Ihn nun arretirl hätten — He?" „Herr Vetter," entgegegnete Leo aufgereizt, „ich hab's noch nicht Herauskriegen können, aus wel chem Säculum Sie eigentlich sind. Ich möchte doch wahrhaftig wissen, wer denn bei einem Scan- dal sein sollte, wenn die Schneivergesellen fehlten? wir sind allein die Leute, welche den Zeitgeist ver stehen. Und daß es der Herr Vetter nur weiß, ich, der Leo, bin ein eingefleischter Franzosenfeind, und wenn mir's heute nachgegangen wäre, die Franzosen sollten kein Morgenroth mehr in Dres den haben aufgehen sehen. Aber das Volk hier kann nichts als schreien, da sucht es seine ganze Courage d'rinn; fürchten sich die Memmen, daß ihnen die Haut von Bajonetts geschlitzt werden könne. Der Henker soll solche Brüllaffen holen, 's ist mit der Gesellschaft nichts anzufangen. Wo 's nicht „drauf und dran" geht und nur geschrjeen und Fenster zertöpfert werden, muß sich 'n ehrli cher Kerl die Augen aus dem Kopfe schämen." Meister Hildebrand war über solche Sprache rein perplex. Der Vetter Leo sah martialisch aus, sein Gesicht glühte vom Zvrnroth und die Augen schienen Funken zu sprühen. „Ne Mutter, sag mir nur, ist denn das ein Scbneidergesell?" fragte der alte Meister nach einer Weile seine Frau. Wenn der Herr Vetter nur eine Ader von rich» tigern Zeitgeistsverstandniß hätte, so würde er un ser Einen eher bedauern, als so 'ne Frage an die Frau Muhme richten," fuhr Leo auf. „Schnei- dergcsell! leider bin ich ein Nadelheld, aber ich hab's satt bis an die Ohren, Soldat werde ich,