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Wer Stellvertreter. Die Schwalbe floh bereits unsern kalt und grau gewordenen Himmel. Unsere sonst so schöne Sonne hatte ihre Wärme und ihren Glanz verloren; beim Herannahen des AUerheiligensesteS war das Feld stumm geworden und von den Gipfeln der ent laubten Bäume fiel wirbelnd das letzte abgestor bene gelbe Blatt. Da sah man am Abend des 20. Octobers v. I., zu der Stunde, wo der Himmel die vielen Tausende von Lichtern anzündet, zwei Kinder aus der Straße nach einer ziemlich bedeutenden Stadt Süddeutschlands langsam ihres Weges da hinziehen. Es waren Bruder und Schwester, ihr Herz schluchzte, und mit Thränen in den Augen langten sie endlich vor einem am Wege stehenden Kreuze, dem Ziele ihrer heutigen Wallfahrt, an. Stumm warfen sie sich vor demselben auf die Knie nieder. Schwelgend und in Andacht versunken, lagen Jacob und Hanne, so hießen die beiden Kinder, auf ihren Knieen. Endlich aber erklangen ihre Stimmen gleich her Orgel, welche die Herzen der gläubigen Versammlung zur Andacht stimmt, in einem Gebete, das gläubig und fromm zum Himmel emporstieg: - „Mutter Gottes, voller Gnade, sende deinen Engel zu uns herab und heile unsern kranken Baker! Dann wird unsere gute Mutter wieder fröhlich werden und wir Beide, heilige Jungfrau Maria, werden dich, wenn wir können, noch mehr, noch weit mehr lieben!" Und die heilige Jungfrau mußte ihr Gebet er hört haben. Denn kaum waren Jacob und Hanne in die Stadt zurückgekehrl, als sich in einer en gen Straße ein dunkles, düsteres Häuschen öff nete und eine junge Frau ihnen freudig entgegen lief. „Arme Kleinen, der Tod ist von unserer Hütte gewichen, das Fieber hat seinen giftigen Stachel verloren. Euer Baker ist gerettet! Kommet, kleine Lämmer, danket Golt mit mir." Und alle Drei warfen sich am Fuße eines gro ßen alten Himmelbettes auf die Knie nieder und dankten Gott. In diesem schlummerte ruhig und sankt der gute Vater Hartmann, der einst ein wackerer Soldat gewesen, jetzt aber, um sein und seiner Familie Leben kärglich zu fristen, die Dienste eines Knechtes bei einem Maurermeister versah. Freudig lächelnd brach der Tag an und die Morgensonne sandte ihre freundlichen Strahlen durch die mut Papier verklebten Fenster, als Ja cob auf dien Zehenspitzen dem Bette nahte. Ge räuschlos und verstohlen schob er die Vorhänge desselben zurück, aber der Vater war bereits er wacht und rief ihm mit seligem Lächeln entgegen: „Ich erwartete dich, Jacob; höre mich an! Wir sind arm und mit meiner Hände Arbeit muß ich unser Aller Leben fristen. Der Himmel hat uns dadurch, daß er mir die Gnade schenkte, mich wieder gesund werden zu lassen, retten wollen. Du, mein Sohn, bist jetzt fünfzehn Jahre alt; auch du mußt nunmehr an die Arbeit denken. Du bist freilich schwach und mehr geistig als körperlich ausgebildet. Deine Arme würden ermattet zu sammensinken, wenn sie den Stein behauen müß ten. Aber unser Nachbar, der Steuereinnehmer, hat eine Freude an deinem guten Aussehen. Er will aus dir ein tüchtiges Mitglied der menschli chen Gesellschaft machen. Gehe daher zu ihm und thue Alles, wodurch du ihm zu Gefallen leben kannst. Vor Allem aber gieb jenen falschen Stolz auf und glaube mir, daß Jeder, ob Gelehrter, ob Schriftsteller, ob Taglöhner, ein Handwerker ist, daß Feder und Hammer beides Werkzeuge sind. Der Geist wie der Körper nützt unser Le ben ab. Drum gehe, mein Sohn Jacob, und erröthe nicht, wenn du einmal einen Rock trägst, über das grobe Wamms deines Vaters." Und Vater und Sohn umarmten sich. Und Mutter und Tochter theilten sich in ihre Umar mung. Am andern Tage trat Jacob beim Steuerein nehmer in die Lehre ein und Alles ging die ersten vier Tage aufs Beste. Aber bei Armen ist die Freude von kurzer Dauer! Am Sonntag Morgen ließ der Meister, bei dem Hartmann in Diensten stand, dem Va ter sagen, daß er am nächsten Tage an die Ar beit zurückzukchren habe, oder im andern Falle seine Stelle verlieren würde. Da stand der Bater auf und sagte: „Ich bin geheilt!" Aber noch zu schwach, fällt er wieder zurück. Wenn er ausgcht, ist es um ihn gesche hen. Er braucht wenigstens noch eine Woche zur Erholung und Stärkung. O, über das Unglück des Armen! Die Stelle des Vaters ist für die Familie das Leben, wenn er sic jetzt schon wieder aufnimmt, ist sie der Tod für ihn und die Sei- nigen! Alle Vier bleiben stumm und schweigend in Nachdenken versunken. Plötzlich fährt ein Blitz durch Jacob's Seele; er trocknet seine Thränen. In dieser äußersten Noth fühlt er sich aus einmal zum Manne erstarkt und männliche Kraft strömt durch seine kleinen Arme. Eine glühende Röthe färbt sein Antlitz: es ist die Begeisterung einer frommen Handlung, die sich darauf abmalt. Er