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— 15 hofften, daß eS nicht blos ein neues Zeitmaß sein, sondern auch ein neues Gebiet ves Strebens, des Denkens und des Schaffens erschließen werde. Damals lag eine blutige Revolution im Rücken, die bei allen ihren Greueln und Schrecken doch auch die eisernen Banden gesprengt hatte, in welche die Menschheit vorher geschlagen war. Man hoffte, daß der grollende Donner und der brau sende Sturm der französischen Revolution der Borbote eines schönen, hoffnungsreichen Bölker- frühlings sein werde. Man hat sich getäuscht, weil man damals noch nicht den unumstößlich richtigen Satz begriffen hatte, daß im Gefolge der Revolutionen und der Kriege niemals der bürgerliche Wohlstand und die vernünftige Frei heit sich befinden. Der Donnerer, der Kriegsgott des Jahrhun derts, Napoleon, der von sich wie Attila sagen konnte: „Wo der Huf meines Pferdes hingetrof fen hat, da wächst kein Gras mehr!" — Napo leon ließ Europa, ließ insbesondere Deutschland seine eiserne Ruthe fühlen. Die Völker krümmten sich unter seinen Füßen — die Fürsten Europas flehten vor ihm um Gnade — brennende Dörfer und Städte beleuchteten seine nächtlichen Pfade, und Leichen bezeichneten seine Spur. Deutschland, das zerfallende Reich, -as in sich die zersetzende Kraft des Rheinbundes erzeugt hatte — Deutschland ermannte sich endlich — wurde einig und warf den Eindringling auS dem deutschen Vaterlande hinaus. Man nannte die letzten Kriegs gegen Napoleon „Freiheitskriege"; allein die Freiheit wollte Deutschlands Völkern nicht erblühen. Die fünfzehn Jahre nach den Be freiungskriegen waren ein fünfzehnjähriger Gra« besgang der Freiheit. DaS machte, dir Völker hatten zu viel gehofft und zu kühne Erwartungen gehabt. Im Jahre 1830 ging Deutschland zwar einen kleinen Schritt vorwärts, aber es folgte nur zu bald ein abermaliger beinahe fünfzehnjähriger (1834 bis 1848) Lrauergang, wo Vieles für die mate rielle Wohlfahrt, sehr Vieles aber gegen die mög liche Freiheit der Völker geschah. Das machte, weil diese noch nicht recht wußten, was sie wollten. Da kam die Sturm- und Drangsperiode von 1848. Die Revolution rollte wie ein Erdbeben durch ganz Europa dahin, sie rüttelte und schüt telte zumal in Deutschland an allen Verhältnis sen. Man glaubte endlich am Ziele der ersehnten Zustände zu sein, man hielt die Rückkehr zu über wundenen Verhältnissen nicht mehr für möglich, man schraubte sich mit seinen Hoffnungen, Wün schen und Forderungen zuweilen fast bis zum Wahn sinn hinauf und siche da — zwei Jahre find hin reichend gewesen, die Völker um mehr als ein Jahrzehnt zurückzuschleudern. Jetzt stehen wir an der zweiten Hälfte des neun zehnten Jahrhunderts, über seinem Eingänge be» findet sich eine einfache harmlose Inschrift, beleuch tet von den Gascandelabern auf dem Schloßplatze zu Dresden. Diese Inschrift heißt: „Dresdener Ministerinlconferenzen" und darunter steht mit klei ner, sehr kleiner Schrift: „Europäischer Friede." Wie damals im Jahre 1801, so liegt auch jetzt hinter uns eine gewaltige, nicht unblutige Revo lution; aber der Tumult eines herannahenden Krieges, das Gerassel der Batterien und Muni, tionscolonnen, das tactmäßige Dröhnen der vor- beimarschirenden Jnfantrriemassen, das Gestampfe der Schlachtrosse und das Wehklagen scheidender Söhne, Männer, Vater, Bräutigame und Ge liebten klingen noch zu frisch in unseren Ohren nach. Es bluten noch Wunden, welche die Re volution schlug — bittere Erfahrungen lähmen wie Bleigewichte den Schwung unserer Wünsche — wir sehen Vieles, was in den letzten Jahren uns lieb und theuer geworden, zertrümmert und zerschlagen zu unsern Füßen liegen. Was Wun der, wenn wir nicht mit solchem Jubel, mit sol chen Hoffnungen und solchen Begeisterungen in die zweite Hälfte des Jahrhunderts überzugehen vermögen, wie unsere Vorfahren in die erste Hälfte? Unsere Hoffnung gleicht einer Georginenstaude, wenn der erste Herbstfrost darüber hingestrichen D; traurig und farblos, ein Bild des Todes, hän gen die vorher so herrlich strahlenden Kronen- her ab. Aber der Lebenskeim unserer Hoffnung ist noch nicht, kann noch nicht ertödtet sein. Nein, nein, es ist unmöglich, daß das deutsche Volk an sich selbst untergehe und an sich selbst verzweifele. Freilich, wir finden dessen kein Hehl, der ein zige Gegenstand, an welchem unser Vertrauen ein einiges Deutschland geschaffen zu sehen, noch haf ten kann, ist wenig geeignet, ihm einen.sichern Halt zu gewähren. Die Völker Deutschlands hof fen von den Ministerialconferenzen weniger, als die Regierungen von denselben in Aussicht stellen. Wir meinen aber, daß wie wir ehemals von der Nationalversammlung vielleicht zu viel erwarteten, im Gegentheil wir jetzt zu tief unter da» Maaß der Möglichkeit herabgehen. Das ist allerdings richtig, unsere Wünsche und Ideen von 1848 werden durch die Ministerialcon ferenzen ihre Verwirklichung nicht finden. Die internationale Freiheit und Selbstständigkeit der deutschen Völker dürften auf ihnen ebenfalls we-