Volltext Seite (XML)
versöhnlich gewesen wäre: der freiwillige Tod hat die Mörderin entsühnt. „Die Waldtaube" überragt Dvoräks andere Sinfonische Dichtungen durch die atmosphä rische Dichte und die Kunst der thematischen Variation. Karel Jaromir Erbens Ballade „Das goldene Spinnrad", die der dritten von Dvoraks späten Sinfonischen Dichtungen, op.109, uraufgeführt von Hans Richter am 26. Oktober 1 899 in London, zugrundeliegt, ist mir ihren sechs Kapi teln und zahlreichen Strophen schon fast ein Epos: Ein König gelangt auf der Jagd an eine Waldhütte, in der eine böse alte Frau mit ihrer eigenen Tochter und einer Stieftochter haust, die sich aufs Haar gleichen. Im Augenblick ist nur die Stieftochter, Dornicka, zugegen, die am Spinnrad sitzt. Der König ist von ihr bezaubert und trägt der Mutter auf, ihm Dornicka aufs Schloß zu bringen. Die aber möchte lieber ihre eigene Tochter gut ver heiraten und tötet mit ihr gemeinsam Dornicka im Wald, nimmt deren Augen, Arme und Beine an sich und bringt dem König, der den Betrug nicht gewahr wird, die falsche Braut. Dieser muß bald nach der Hochzeit ins Feld. Ein zaubermächtiger Greis findet unterdessen Dornickas verstümmelte Leiche und schickt seinen Knaben dreimal aufs Schloß, um von der Königin gegen Teile eines goldenen Spinn rads die fehlenden Körperteile Dornickas zu erhalten, die er dem Mädchen mit Hilfe eines „Lebenswassers" wieder anfügt. Dem zurück kehrenden König führt die Königin gleich ihr goldenes Spinnrad vor; das aber beginnt so gleich von dem Verbrechen an Dornicka zu singen. Der König findet im Walde das zum Leben erweckte Mädchen, nimmt es zur Frau und läßt die Mörderinnen den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Diesen wuchernden Stoff sucht Dvorak musi kalisch zu bändigen, indem er den einzelnen Sphären der Handlung einheitliches Material zuordnet, Motive, die untereinander verwandt sind. So gehören die Gestalten des Königs und des Alten als Repräsentanten des Guten thematisch zusammen, aber auch das Thema der Mutter ist durch Verzerrung aus dem des Königs abgeleitet. Eine lyrische, kantable Gegenwelt bilden die Musik der Dornicka mit ihrem Spinnrad und die Liebesgesänge, die ihr zugedacht sind. Eher noch als in der „Mittagshexe" werden hier die vier Satztypen der Sinfonie nach Liszts Vorbild in einen großen Zusammenhang ge drängt. In den einleitenden Takten rotiert in den Streichbässen das Spinnrad in pentatonischen Figuren, Hufgetrappel dazu: der König kommt mit Hörnerklang daher, und damit sind bereits Natur- und Märchensphäre beschworen. Drei maliges Pochen öffnet die Tür; aus dem Spinn radmotiv entfaltet sich, gewissermaßen als Sei tensatz zum Hauptthema des Königs, die sin gende Thematik Dornickas, die in einen breiten Liebesgesang mündet. Diese „Exposition" wird variiert wiederholt: der König sprengt wieder daher, trifft nun auf die Alte, die ihm mit einer Parodie seines Motivs (in den Fagotten) ent gegenkommt, das geprägt ist vom Intervall des Tritonus - seit je Ausdruck des Teuflischen. Die Musik Dornickas klingt noch einmal kurz an; eine rudimentär bleibende Sonate steht für den ersten Satz der „Sinfonie". Eine kriechende Wendung der Streicher bässe leitet zu einer Art „Scherzo", das die teuflische Tat schildert. Des gutgläubigen Königs Hornrufe erscheinen verhöhnt. Als „Trio" gelten kann das Hochzeitsfest und der Tanz auf der Burg, der thematisches Material des Königs variiert. Untermischt ist alles immer wieder von der Drehfigur des Spinnrads, dem Hauptleitmotiv des Stücks. Es grundiert auch (in den Geigen) den breit strömenden Liebes gesang des Hochzeitpaares, der den ersten Teil des „langsamen Satzes" ausmacht, an dessen Ende Trompetensignale den König ins Feld rufen. Dem unmittelbar verwandt erweist sich die zweite Hälfte dieses „Satzes", der choralartige Blechbläsersatz, der den ge-