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Schlummerarie „Schlafe, mein Liebster" aus Teil II ist keine Erstschöpfung, sondern findet ihre Urgestalt in der gleichnamigen Arie der „Wollust" aus der Kan tate 213. Auch die koloraturenreiche Tenorarie „Frohe Hirten, eilt, ach eilet" ist eine solche Parodierung, des gleichen der Eingangschor zur dritten Kantate „Herr scher des Himmels". Insgesamt elf Nummern konnten bisher aus weltlichen Quellen nachgewiesen werden. Wer dies nicht weiß, wird Bachs „Weihnachts-Orato rium" als eine originale und den Kern wie auch die Details wundervoll charakterisierende Musik empfin den. Bach hat aus einem ganzheitlichen Grunderleben heraus geschaffen, so daß der Gegensatz weltlich geistlich nur von sekundärer Bedeutung war und den zentralen Punkt, nämlich die humanistische Botschaft von der Liebe und vom Frieden, nicht berührte. Die neugeschaffenen Chöre „Ehre sei Gott" (2. Teil) und „Laßet uns nun gehen gen Bethlehem" (3. Teil) sind dramatischer Bestandteil des Evangelienberichts, der ansonsten in der eindringlichen Sprache der Rezitative vorgetragen wird und die einzelnen Kantaten zu sammenhält. Wesentlichen Anteil daran haben auch die sinnvoll eingeschobenen Choräle. Sie reflektieren das weihnachtliche Geschehen in der Weite mensch licher Empfindungen, bilden Inseln des Verweilens und fassen am Ende gedanklich-musikalisch zusammen. Dies zeigt besonders schön die zweite Kantate. Sie wird eingeleitet von dem einzigen Instrumentalsatz des ganzen Werkes, der „Sinfonia" — Inbegriff der Hirtenmusik - eine Pastorale im wiegenden 12/8-Takt. Die ausgesuchte Instrumentierung, dazu das dialogi sierende Musizieren der Hirten auf dem Felde und der himmlischen Heerscharen erzeugen eine Welt des Friedens und der Freude, wie sie inniger wohl kaum empfunden werden kann, im Schlußchoral dieser Kan tate wird nun das Hirten-Motiv aufgegriffen und konzertierend einbezogen. Der festliche Glanz der großen Chöre verdichtet sich da in der Stille mensch lichen Glücks — die „Sinfonia" ist das Herzstück des „Weihnachts-Oratoriums”. Johannes Forner