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Revision oder Bestätigung des Bildes eines „progressiven Eklektikers" (New Grove's Dic tionary of Music and Musicians, London 1982), des Bildes eines Komponisten, der Mittel und Merkmale seiner Musiksprache fort schrittlich ausgewählt hat? Schostakowitsch als das Haupt einer nationalrussisch akzentuierten Neuen Musik neben Prokofjews „musikanti- schem" und nach Strawinskys „universalisti schem" Lebenswerk zweier anderer Sterne er ster Ordnung, die Rußland und der Musikwelt über unserem 20. Jahrhundert leuchten? Schostakowitsch als „Klassiker" einer ge samteuropäischen Musikmoderne? Schostako witsch, so elementar wie komplex, so rätselvoll wie konsequent, letztendlich denn: ein Genie unter Genies in jenem real-irrealen „Weltreich der Musik"... Wie Schostakowitschs Sinfonien Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 4 zumindest stil- und entstehungsge schichtlich als eine „Revolutions-Trilogie" ver standen werden können, so hat Schostako witsch seine Sinfonien Nr. 7 (op. 60; 1941) Nr. 8 (op. 65; 1943) und Nr. 9 (op. 70; 1945) als die übergreifende Werk-Trias seiner „Kriegs-Sinfonien" bezeichnet. War es vordem der Versuch, mit sinfonisch-chorischen Mitteln zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen, (oder diese doch zu signalisieren), so ist jetzt das Ideenprogramm, mittels sinfonischer Dar stellung (und damit auch Einwirkung) das Erlebnis des „großen vaterländischen Krieges" Klanggestalt werden zu lassen: von der Belagerungs-Sinfonie, Leningrad 1941, über die Durchbruchs-Sinfonie, Moskau 1943, zur Freisinns- und Frohmuts-Sinfonie (Leningrad 1945, Leningrader Philharmonie unter Jew- geni Mrawinski). Befreiungsfreude klingt schon im Rondofinale der Sinfonie Nr. 8 auf (Schostakowitsch: „Al les, was schön ist, wird triumphieren"). Vollends die Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 ist mit jedem ihrer knapp gerafften fünf Sätze von Fröhlichkeit und Helle, von Übermut und Aus gelassenheit durchpulst. Zu so flinkfüßiger Sin- fonik hat Schostakowitsch vorher wie nachher kaum noch gefunden. Es ist, als ob Haydn und Rossini zugleich Pate gestanden hätten mit allen Geistern ihrer Heiterkeit. (Hatte nicht auch Prokofjew, am Ende des 1. Weltkrieges, 1917, zu seiner dem Gedenken an Haydn gewidmeten „Symphonie classique" hingefun den?) Gleich das Eingangs-Allegro gibt sich nach Form und Geist ganz im Sinne eines klas sischen Sonaten-Kopfsatzes: Haupt- und Ne benthemen in der Es-Dur- und Dominant-Tonart, Durchführungsteil in distanzierter Wechsel spielmanier, Reprise in naiver Verspieltheit. Besinnlichere Töne schlägt das nachfolgen de Moderato an, doch bleibt es wohl überschaubar in seiner romanzenartigen drei teiligen Liedform (h-Moll/f-Moll/h-Moll), in sei nem lyrisch-elegischen Holzbläsersatz, den gegengruppierten Streichern und sordinierten Waldhörnerpaaren. Von sprühender Inspiriertheit das Presto als Scherzo-Mittelsatz mit dominierenden Holz bläsern, angeführt vom A-Klarinetten- und Fa gott-Paar. Vom Presto alsbald in ein Largo-Zwischen stück übergleitend eine rezitativische Medita tion des Solofagotts, mit Trompeten- und Po- saunen-Heraldik eingeleitet und mit Baßstrei cher-Orgelpunkt hinüberleitend in das Final-Al- legretto: ein im Wechsel von Heiterkeit und Scharfsinn, von klanglicher Beschwingtheit und rhythmischer Prägnanz entfaltetes fünfteiliges Rondo, keck untermischt mit Bauelementen der Sonatensatzform. Seit ihrer frühen Erstaufführung im Nach kriegsdeutschland (Dresden 1947, Dresdner Philharmonie unter Heinz Bongartz) ist Scho stakowitschs Neunte nicht mehr verschwunden aus den Konzertprogrammen und den Produk tionsplänen auch im Westen. Mag orthodoxe Kunstkritik dem Komponisten der Neunten zunächst auch „Formalismus" nachgesagt ha ben, das geistfunkelnde Orchesterwerk hat derweil überlebt, auch bis in eine Choreogra phie des New York City Ballet.