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faszinierend-erregenden Musik, die ein einzi ger Ausdruck des Grauens, Schreckens und des Verlangens ist, das sogar den Tod be siegen kann, verstärkte der Komponist noch die scharfe, satirische Gesellschaftskritik des Librettisten, deckte er doch schonungslos die hinter der Großstadtfassade lauernde Un menschlichkeit auf, protestierte er gegen die unbarmherzige Welt der modernen Groß stadt, in der die Tendenzen von Gewalt, Ent fremdung und falschen Gefühlen konzentriert Zusammentreffen. Und die Großstadt steht für eine Welt, in der ein Weltkrieg entbrennen konnte, ein Krieg der Vernichtung der mensch lichen Kultur, der menschlichen Werte und Moral. Das Stück, in dem die Liebe, das alles bewegende menschliche Gefühl, gleichsam zu einem Totentanz wird, bringtaberzugleich auch Bartöks Zuversicht zum Ausdruck, wie sie sein Biograph lajos lesznai formulierte: „Mitten in der sich bekriegenden Welt, der Welt des Mordes und der Vernichtung, er scheint die Liebe als Urkraft, die durch nichts vernichtet werden kann." Die Urkraft des Mandarins erweckt schließ lich die echten Gefühle des Mädchens, das auch die differenzierteste Gestalt der Hand lung ist, indem es auswählt zwischen der Un moral und der noch nicht lebensfähigen Mo ralität des von Bartök zeitlebens herbeige sehnten „natürlichen" Menschen. Indem die Sehnsucht des Mandarins schließlich gestillt wird, siegt auch hier die unbezähmbare menschliche Liebe über das Lebensfeindliche, Verderbte, ja den Tod. Damit erhält die bru tale Pantomimenhandlung Tiefenschärfe und verliert den vordergründig-naturalistischen Schauereffekt. Wie manche andere Künstler jener Zeit - denken wir nur an Strawinskys „Le sacre du printemps" und Prokofjews„Skythische Suite" - stellte Bartök der „entmenschten" Zivili sation die Urkraft des Barbarischen, Primiti ven gegenüber, die hier in der Gestalt des dämonischen Mandarins erscheint. In vielen Werken Bartöks zwischen dem seinerzeit auf sehenerregenden Klavierstück „Allegro barbaro" (1911) und dem Ballett „Der wunderbare Mandarin", herrscht die Urkraft einer heftigen, aber sehr differenzierten Rhythmik vor, die letztlich ihre Wurzeln in der Volksmusik hat, wenn auch der größere Zusammenhang eines „barbarischen" Ex pressionismus gesehen werden muß, der sich in aggressiver Motorik, uneingeschränktem Dissonanzengebrauch und geschärftem Or chesterklang äußerte. Es dauerte lange, ehe „Der wunderbare Mandarin" sich auf den Bühnen durchsetzte. Zweimal wareine Aufführung in Budapest ge plant, beide Male kam sie nicht zustande. Nach der Uraufführung in Köln 1926 mußte das Werk abgesetzt werden, da der dama lige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, auf Antrag der Zentrumsfraktion weitere Aufführungen wegen des „unmorali schen" Sujets' verbot. Erst im Jahre 1942 brachte der in Ungarn geborene Choreo graph Aurel Milloss das Werk in der Mailän der Scala heraus. Todd Bolender machte für das New York City Ballet eine neue Choreo graphie. Und am 9. Dezember 1945 fand die ungarische Erstaufführung in der brillanten Choreographie von Gyula Harangozö statt. In zahlreichen weiteren Aufführungen an deutschen Operntheatern, in England und in anderen Ländern errang das Ballett späte Anerkennung. Sicher hat die expressionistische Leiden schaftlichkeit und Grellheit des „Wunderba ren Mandarins" das Verständnis des Werkes einst erschwert, die Hörer erschreckt. Heute jedoch hat die höchst eindringliche, bis an die Grenze des Möglichen mit Spannung ge ladene, auch Geräuschelemente (aus dem Großstadtleben) einbeziehende Tonwelt des Stückes ihren Schrecken verloren; nichts kann uns mehr bestimmen, die eindeutig ethische Absicht des Komponisten zu verkennen. Zitternde Vibratowirkungen der Blas instrumente, Glissandi der Violinen und des Klaviers zeichnen das Grauen der Stück atmosphäre, brutale Akkorde kommentieren den unmenschlichen Charakter der Strolche,