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durchschritten werden, soll seine Erforschung gelingen; Daß diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Beobachtung beteiligt war. Weder wurde die Erkenntnis auf geradem Weg errungen, noch ging es ohne Störungen ab. Heute scheint es mir, als sei das Gebiet übersichtlich geworden, als sei die geheime Sprache der Töne erlauscht. Nicht von den Starrsinnigen, die durch einfaches Verharren in der ihnen gewohnten Unordnung Kraft vortäu schen — auch nicht von dem Tugend bold, der sich gar nicht erst in Ver suchung begeben hat." Veronika Reipsch Als Flieder jüngst mir im Garten blüht Ein Requiem „Denen, die wir lieben" Nach der Dichtung von Walt Whitman (1819—1892) VORSPIEL FÜR ORCHESTER 1. BARITON UND CHOR Als Flieder jüngst mir im Garten blüht' Und im West frühe das große Gestirn verwelkt' in die Nacht. Trauert’ ich, und Trauer bringt mir jede nahnde Frühlingszeit. Du, nahnde Frühlingszeit, wahrlich bringst mir Dreifaltigkeit: Flieder, jährlich in Blüte; vergeh’nden Stern dort im West; Gedenken dem, der mir lieb. O sunkener westlich starker Stern! O Schattennacht! O düstre Tränennacht! Großer Stern, der du schwandst! O wie Sumpfschwarz den Stern verbirgt! O Hände grausam, die ihr Kraft mir nehmt! O hilflos, Seele mein! O Wolke, rauher Ring, der mein Seel’ nicht läßt! Nah dem Farmhaus, beim Zaun weißer Pfähle, in dem alten Garten ragt der Fliederbusch hochstämmig, herzförmgen Laubs und sattgrün, mit reichlichen spitzen Blüten, köstlich aufgericht, mit dem Dufthauch, der mir lieb. Ein Wunder jedes Blatt am Ast. Von diesem Busch an der Hoftür. Mit zartestgetönter Blume, herzförmgen Blatt und sattgrün. Da brech ich ein Blüte und Zweig. 2. ARIOSO • MEZZO SOPRAN-SOLO Aus dem Ried, aus entlegenem Röhricht, da singt ein scheu verborgener Vogel sein Lied, abgewendet, allein. Die Drossel, die allen bewohnten Stätten sich ferne hält, singt in sich selbst gekehrt. Lied voller blutgem Weh! Lebensgesang des Tods (wie wohl versteh ich, wie du, mein Freund, bald dem Tode verfielst, nahm’ man dir dein Lied). 3. MARSCH • CHOR UND BARITON über die Hügel im Lenz, durchs Land und durch Städte und durch alten Wald (wo jüngst, ein buntes Gesprenkel auf graufarbnem Schutt, Veilchen der Erd’ entschlüpft) Durch Wiesenland voller Gras, durch endloses Gras, Gras das den Weg umsäumt; Feldern entlang von Weizen, gelblichem Korn, seine Ähren dem braunen Feld entsprossen; weißem und rosigem Apfelblust entlang in den Gärten fährt durch Tag und Nacht und trägt seinen Leichnam ein Sarg zu der Grabstatt, da er ruhn soll. Bahre, du reisest durch Wege breit bei Tag und Nacht, mit der Wolke Finsternis im Land, mit den Fahnen auf Halbmast, Städten gehüllt in schwarzen Prunk. Alle Gegenden tief in Trauer wie schwarze Fraun in Schleiern. Mit gedehnten Prozessionen, und mit Feuern in der Nacht, mit unzählger Fackeln Licht, einem Meer entblößter Häupter, Blick und Mienen stumm, die Gesichter finster, da der Bahnhof wartet, da die Bahre anlangt. Mit Trauerlitaneien in der Nacht, viel tausend schwellend ernste Stimmen; Mit Stimmen, deren Klagelaute feierlich den Sarg umweben: Mit Kirchen halbhell und mit Orgeln voll Schauern — wie durch all dies du gleitest, mit der Glocken, Glocken unablässigem Schlag: Sarg hier, da du still vorbeiziehst. Für dich meine Fliederblüten. (Einem nicht, nicht dir allein: Allem und jedem Sarg sei Blüt* und Zweig gebracht, so frisch wie ein Morgenlied, das ich ständig dir singen wollt’. O heil und heil’ger Tod. Und Rosen solln überall sein, O Tod! Ich decke dich völlig mit Rosen und frühen Lilien. Doch mehr noch bring ich dir Flieder in früher Blüt, mengevoll, ich breche Zweige ab von den Büschen, mit vollen Armen komm ich, breit’ ihn aus für dich und die Särge all, die dein, o Tod.)