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„Mein ganzes waches Leben hindurch habe ich, der ich ja nicht nur Komponist, sondern auch Musikwissenschaftler bin, über andere Komponisten und ihre Werke geschrieben — große und kleine Meister und ihre Werke aus uralter und alter, aus neuer und neuester Zeit, ihre Musik analysierend, charakterisierend, kritisierend — nach bestem Wissen und Gewissen sie deutend, lobend oder anzweifelnd. über eigene Werke zu schreiben bietet demgegenüber bestimmte Probleme, denen nicht leicht beizukommen ist. Da ist zunächst die Frage der Wertung. Weder lobende Empfehlung noch kritisches Anzweifeln sind möglich, im letzteren Falle wird man dem Urteilenden entweder (mit Recht) falsche Bescheidenheit vorwerfen oder (mit kaum weniger Recht) ihm Fragen stellen, warum er seine Werke über haupt schrieb bzw. der Öffentlichkeit übergab. Dabei glaube ich sogar, eine ziemlich genaue Vorstellung über Wert und Unwert, Vorzüge und Grenzen meiner Arbeiten zu haben. Eine weitere Schwierigkeit entsteht bei dem Versuch, die eigene Musik historisch einzuordnen. Denn selbst stetig in Entwicklung und Veränderung begriffen und ganz natürlicher Weise immer wieder erneut mit eigenen Problemen beschäftigt und ringend, wird ein Komponist nicht jederzeit die Übersicht oder Objektivität besitzen, um das eigene Werk als Ganzes nach Quellen, Eigenheiten und Neue rungselementen wirklich plazieren zu können. Was ich aber wohl tun kann - und das will ich in folgenden Ausführungen versuchen — ist, zu erklären, wie die hier zusammengestellten Lieder entstanden sind, was ich mit ihnen aussagen wollte und warum sie so geworden, wie sie nun mehr in Notenbild und Klang vorliegen. In meinem 1. gedruckten Liederband steht der Satz: „Lieder zu schreiben, ist für mich seit fast 40 Jahren, eine natürliche Lebens äußerung". Noch immer treffen jene Worte auf mich zu: Ich denke und fühle im Lied, wenn ich auch in den letzten Jahren hauptsächlich größer angelegte Instrumentalwerke geschrieben habe - sind sie mein ureigenstes Ausdrucksmedium geblieben, und wie Kilometersteine stehen sie entlang dem Wege, den ich gehe und den mich das Leben führt. Im Liede suche ich den Menschen und dem Menschlichen in vielfältigen Lebenssphären, Gedanken, Gefühlen, Empfindungen musikalische Gestalt zu verleihen. Es ist wahr, daß jedes meiner Lieder ein Stück Selbstbiografie ist, doch habe ich immer angestrebt, die Kraft zu gewinnen, um mein Denken und Fühlen, Erleben, Beobachten und Kämpfen in Tönen so zu formulieren, daß auch andere, daß die Zeitgenossen, mit denen gemeinsam ich lebe und schaffe, berührt werden mögen. Eine ganze Reihe der Lieder waren ursprünglich „Klavierlieder". Durch Gustav Mahlers großes Vorbild wurde mir klar, daß zur Charakterisierung von Stimmung und Detail vorsichtig eingesetzte Bläser- und Streicherfarben oder hinzugesetzte Stimmen den einem Liede zugrunde liegenden Text verdeutlichen, bereichern können. Dabei schien mir in einer Reihe von Fällen die Begleitung durch Streich-Kammerorchester gegeben (z. B. „Spätsommernacht"). Wenn ich einen Text in Musik setze, suche ich dessen Sinn in seiner Gesamtheit und in jeder Zeile, ja jedem Wort nach des Dichters Intention und gleichzeitig nach einer eigenen Auffassung musikalisch zu verdeutlichen. Dabei bin ich mir bewußt, daß bereits das nur wortmäßig-sprachliche Lesen oder Rezitieren des Textes im einzelnen wie im ganzen oft eine Vielzahl von Ausdeutungsmöglichkeiten zuläßt. Aufgrund meines allgemeinen gedanklich-psychischen So-Seins, meiner Lebens erfahrungen, meines Temperaments, meines Verhältnisses zur literarischen Lyrik und meines weltanschaulichen Werdeganges bieten sich mir bestimmte Lösungen als verbindlich, ja oftmals als einzig mögliche an. Ich glaube an die unerschöpfliche Vielfalt und Ausdruckskraft der Melodie als Hauptelement im Lied - Vermittlerin der Kontinuität der Musik, entscheidendes Medium ihres Gefühls- und Gedankengehaltes, Trägerin ihrer Charakterisierungs kraft und Schönheit." Ernst Hermann Meyer UDO ZIMMERMANN wurde 1943 in Dresden geboren. Er war Mitglied des Dresdner Kreuzchores und studierte von 1962 bis 1968 an der Musik hochschule „Carl Maria von Weber" Kom position bei Johannes Paul Thilman, Diri gieren und Gesang. Anschließend war er Meisterschüler bei Günter Kochan an der Akademie der Künste der DDR in Berlin. 1970 wurde er Dramaturg für zeitgenössi sches Musiktheater an der Staatsoper Dresden, wo er 1974 das „Studio Neue Musik" gründete und leitete. 1982 erhielt er eine Ordentliche Professur für Kom position an der Musikhochschule in Dres den, seit 1985 ist er außerdem Leiter der Werkstattbühne für zeitgenössisches Musiktheater der Oper der Stadt Bonn, seit 1986 Direktor des Dresdner Zentrums für zeitgenössische Musik und seit 1988 künst lerischer Leiter des musica-viva-ensembles dresden. Udo Zimmermann ist Ordentliches Mit glied der Akademie der Künste der DDR und der Freien Akademie der Künste Hamburg, Mitglied des Kuratoriums der Semperoper und des Präsidiums des Ver bandes der Komponisten und Musik wissenschaftler der DDR sowie zweifacher Nationalpreisträger, Träger des Hanns- Eisler-Preises und verschiedener Kompo sitionspreise der UNESCO Paris. Gastvorlesungen und Meisterkurse führten ihn nach Österreich, die Schweiz, Italien, Frankreich, England und die BRD. Seit 1979 ist Udo Zimmermann zunehmend als Dirigent tätig, u. a. bei den Berliner Phil harmonikern, dem Münchner Rundfunk sinfonieorchester, den Wiener Sinfonikern, dem Tonhalleorchester Zürich, der Staats kapelle Dresden und den Opern Wien, München, Hamburg und Bonn. In seinem kompositorischen Schaffen ge hören seine Opern zu den meistaufgeführ ten Stücken der Musikbühne in der Gegen wart. Sieh, meine Augen, das waren zwei Spinnen, die saßen im Netz Ihrer Höhlen und fingen die Wilder der Welt, die hineinfielen, fingen sie und genossen ihre Süße und Lust. Aber je mehr kamen, um so mehr wurden ihrer, die waren saftig von Bitterkeit und fett von Gräßlichkeit, und endlich er trugen die Augen nicht mehr solche Bitterkeiten, da haben sie den Eingang zugewoben, saßen drinnen, hungerten lieberund starben. Wie könnte ich in Worten sagen, was meine Augen geblendet hat? .. . Wenn ich nachts liege und die Finsterniskissen mich drücken, dann drängt sich zuweilen um mich klingendes Licht, sichtbar meinen Augen und meinen Ohren hörbar. Und da stehen dann die schönen Gestalten der besseren Zukunft um mein Lager. Noch starr, aber von herr licher Schönheit, noch schlafend aber wer sie erweckte, der schüfe der Welt ein besseres Gesicht. Ernst Barlach