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Leipzig, 28. Juli. Die öffentliche Aufmerksamkeit Deutschland- ist jetzt getheilt zwischen den Nachwirkungen und — müssen wir von unserm Standpunkt aus sagen — Nachwehen de- jüngsten Reichstages und den Anfängen der Wahl bewegung für den Landtag im größten deutschen Bun desstaate, Preußen. Für uns das Bedeutsamste in ersterer Hinsicht sind die Anzeichen einer weiter fort schreitenden Zersetzung, beziehentlich Verschiebung der national-liberalen Fractioo, und unter diesen Anzeichen wiederum der neuerlich al- ziemlich zweifellos gemeldete Rücktritt Bennigsen'- von seiner parlamentarischen Thätigkeit. Diese« letztere Ereigniß erachten wir al« verhäng- uißvoll für die Stellung der Partei im Reichstage, da mit dem Austritt Bennigscu'S fast unausbleiblich die Leitung der Fraktion vollends ganz in die Hände der mehr links stehenden Führer übergehen dürfte, deren Uebergewicht schon bisher nur zu sehr sich gel tend machte. ' Von Hrn. v. Bennigsen selbst ist jedenfalls eine ausführliche öffentliche Rechtfertigung diese» Schrittes zu erwarten; bis zu deren Erscheinen »ersparen wir unser Urtheil darüber. Bon der internationalen Telegraphenconferenz in London treffen sehr günstige Nachrichten ein. Die deutscherseits gemachten Vorschläge wegen Herabmin derung der Taxen für den großen internationalen Te legraphenverkehr scheinen zum größten Theil die Zu stimmung der andern Staaten gefunden zu haben, so daß eine nicht unwesentliche Verwohlfeilerung diese- Ver kehre» für uns zu hoffen steht. Die Neubildung des Cabinet» im diesseitigen Oesterreich, die als zweifellos erwartet ward und auch wol nicht auSbleiben wird, ist doch augenblicklich in» Stocken gerathen. Man wird vielleicht erst abwarten wollen, wie sich die Parteigruppirung im neuen Reichs» rathe factisch gestaltet, da etwa» ganz Gewisse» dar über namentlich so lange nicht feststeht al» man nicht weiß, welche Politik definitiv die Czechen einschlagen, ob sie wirklich den ReichSrath beschicken und welche Stellung sie darin einnehmen werden. Da» Einrücken der Oesterreicher in Novibazar ist noch immer eine schwebende Frage. Vereinzelte Acte der Unbotmäßigkeit gegen die österreichischen Behörden i» Bo-nien scheinen keine weitere Bedeutung zu haben. Da» neue italienische Ministerium Cairoli ist we nigsten» über den nächsten Stein des Anstoßes, über den. sein Vorgänger gestrauchelt war, da» Mahlsteuer- gesstz/ anscheinend Mckltch hinweggekommeu. Zwar hat der Senat eine nicht unwichtige Veränderung an der von der Depütirtrnkammer beschlossenen Fassung vörgenommen; da dieselbe sich indeß nur auf die künf tige Aufhebung des Restes der Mahlsteuer bezieht, also von keinem unmittelbaren Einfluß auf die ganze Frage ist, so scheint die Deputirtenkammer daraus keinen Kriegsfall machen zu wollen. Vorderhand ist die Angelegenheit bis nach den ParlamentSferiru vertagt. In Frankreich schweben die Ferry'schen UnterrichtS- grsetze im Senat, dem sie gegenwärtig vorliegen, noch immer zwischen Sein und Nichtsein. Eine starke Gruppe der Republikaner selbst unter Jule» Simon'S Führung möchte dieselben gern etwa» abschwächen, während man von der linken Seite her auf ihre un verkürzte Durch- und Ausführung dringt. Die Deputirtenkammer genehmigte einen Gesetz- Kugel fest, solange der Zählapparat nicht wieder auf Null gestellt ist, wa» nur vom Präsidententische auS geschehen kann. Leipziger Stadttheater. O Leipzig, 27. Juli. Gestern eröffnete Frl. Auguste Reinecken vom Hoftheater in Altenburg ihr Gastspiel al» jugendliche Liebhaberin in ,-Großstädtisch", Schwank in vier Acten von vr. v. Schweitzer, einem Stück, das bekanntlich, wie auch „Epidemisch", seine Ver wickelungen allerhand höchst zweideutigen MiSverständ- nissen verdankt, die mit mehr Recht die Aufmerksam keit des stettiner Polizeipräsidenten hätten beanspruchen dürfen al» das „HauS Fourchambault". Frl. Reinecke» führte sich als Paula Walden gut ein, obgleich wir sie noch in ausdrucksvoller» Rollen zu sehen hoffen. Die junge Dame, eine anmuthige Erscheinung und im Besitz eine- wohlklingenden Or gan», beobachtet im Spiel eine gewisse Zurückhaltung, die gerade ihrem Rollenfach in vielen Fällen recht gut stehen dürfte und auch gestern am Platze war. Die Künstlerin scheint weniger auf bemerkenSwerthe feine Striche und Schattirungen als vielmehr auf Natür lichkeit besondern Werth zu legen, wa» nur lobend anerkannt werden kann. Das Spiel der Künstlerin ward vom Publikum günstig ausgenommen und wieder holt beifällig begrüßt. Die sonstige Rollenbesetzung war zum großen Theil dieselbe wie früher. Neu waren wol nur Hr. Conrad al- Mackedei, den unser- Wissen- sonst Hr. Schubert gab, Frl. Picker al» Charlotte Wingen und Frl. v. Janu- entwurf betreffend die Verlängerung der Handelsver träge. Die Regierung sprach sich warm für das System der Handelsverträge an-. Der Zulukrieg hat in allerletzter Zeit eine gün stigere Wendung für die Engländer genommen. Der dortige Commandircnde Lord Chelmsford hat eine überlegene Zahl von Feinden in die Flucht geschlagen und ihren Kraal verbrannt. Ob aber damit der Krieg wirklich beendet sei, scheint un» bei der zähen Natur der Zulu- noch sehr fraglich. Die Ministerkrisis in Konstantinopel ist durch da» Nachgeben de» Sultan» und seine Zustimmung zu den Forderungen de» Großvezier- Khereddin (welche na mentlich auf Beseitigung de» persönlichen Regiment- de- Sultans und seiner Camarilla gingen) für den Augenblick beendet. Auf wie lange, ist freilich eine andere Frage. Inzwischen hat sich aber die Lage in Konstan- tinopel wieder nach anderer Seite hin getrübt. Eng land und Frankreich, unzufrieden mit dem Vorgehen der Pforte in der ägyptischen sowol wie in der grie chischen Frage, haben in Bezug auf letztere, wie e» heißt, die Feststellung eine- Termins verlangt, bis wohin dieselbe erledigt sein werde, in Betreff der erstem aber ein Ultimatum gestellt, worin sie angeblich drohen, Aegypten für unabhängig zu erklären, wofern die Pforte noch länger zögere, von sich aus dem neuen Vicekönige eine solche Stellung einzuräumen, wie sie sowol die innere Wohlfahrt des Lande», al» auch das Interesse des internationalen Verkehr- an einem für diesen so wichtigen Punkte wie Aegypten erheische. Die rumänische Iudenfrage ist zwar im Lande selbst nicht wesentlich vorgerückt, da auch das neue Ministerprogramm eine klare Lösung derselben nicht enthält, außerdem aber die Vertagung der Kammern auf einen Monat einer baldigen Erledigung der Frage im Wege steht; um so bedeutsamer ist die Antwort, die der englische Minister Lord Salisbury einer De putation in dieser Angelegenheit gab. Er sprach sich dahin aus, daß die englische Regierung im herzlichen Einvernehmen mit Deutschland, Frankreich und Italien in dieser Sache handle und daß die Mächte nicht da von abstehen würden, an dem Acte festzuhalten, den sie in Berlin vollzogen hätten und welcher die Aner kennung der Selbständigkeit Rumäniens von einer Abänderung der betreffenden intoleranten Gesetzesbe stimmung abhängig mache. Rumänien, sagte er, würde einen Act vollkommener Thorheit begehen, wenn eS die Bedingungen des Berliner Vertrages nicht erfüllte. Die Räumung der Balkaniusel Von den russischen Truppen geht unverzögert vorwärt». E» ist nicht wahr, daß Rußland wegen der Besetzung oder Schlei fung der Festung Arab-Tabia neue Schwierigkeiten erhoben, wol gar den Abzug seiner Truppen sistirt habe. Lediglich da- Ansuchen soll eS gestellt haben, eS möge diese Frage noch einmal geprüft werden. Freiherr von Stauffeuberg mck seine Wühler. AuS Holzminden vom 22. Juli berichtet die Os nabrücker Zeitung: „Gestern tagte hierselbst eine Versammlung der liberalen Wähler des hiesigen Wahlbezirks, um an den Reichstagsabgeordneten de« Wahlkreises, Frhrn. v. Stauffenberg, ein« ZustimmungSadreffe zu richten. schowsky als Hulda. Hr. Conrad gab den geschwätzigen BerlagSbuchhändler mit der erforderlichen Zungenfertig keit und Elasticität wieder, wenn eS ihm auch auf einige Wiederholungen mehr nicht anzukommen schien. Frl. Picker kam den Anforderungen ihrer Rolle in Bewe gung und Betonung gut nach, nur vermißten wir bis weilen an ihr jene Naivetät und Ursprünglichleit, die gerade für jugendliche Liebhaberinnen so unentbehrlich sind. Frl. v. IanuschowSky führte die Rolle des „unter das Theater" gehenden Dienstmädchen- gut durch und legte ihren bisweilen recht komisch wirkenden Kothurn auch nicht eine Secunde lang ab. DaS, besonders im Dialog recht dürftig auSgestat- tete Stück hätte im Tempo und besonder» im Zu sammenspiel flotter und präciser genommen werden können. Die Berliner Bürger-Zeitung erzählt: „Bor einigen dreißig Jahren hatte ein junger Postsecretär der Provinz den sehnlichen Wunsch, nach Berlin versetzt zu werden, weil er sich zu größern Dingen berufen glaubte, al« sie der Aufenthalt m einer kleinen Kreisstadt mit sich bringt. Da ein deshalb einaereichte» Gesuch unbeantwortet blieb, so reiste er zur bessern Betreibung seiner Angelegenheit nach Berlin und erlangte auch bald eine Audienz bei dem da maligen Generalpostmeister. Kaum hatte dieser jedoch die ersten Worte seine» jungen Beamten vernommen, al» er heftig auffährt und ihn in voller Wuth anschreit: «Wa»? Auch hierher kommen? Alle« will hierher, Sie sind heute schon der vierte. Mehr arbeiten wollen Sie? Ja wohl, da« sagen sie alle. Sich amusiren. bummeln, darauf kommt'« immer hinaus. Ich werde Ihnen Arbeit genug besorgen, verlassen Sie sich darauf!» Und damit wendet der er zürnte alte Herr dem bestürzten Bittsteller den Rücken, tritt an da- Fenster und blickt gleichgültig auf die Straße. Da E» kam hierbei folgender Brief unser« Abgeordneten vom 16. Juli zur Verlesung: Ich schreibe Ihnen vom Bette, an einem neuen schweren Gichtanfall daniederliegeud, und habe daher vor allem Ihre Nachsicht mit Schrift und Inhalt de» Briefe» anzusprcchev. Bor allem den herzlichsten Dank für Ihren Brief, dessen Inhalt mir «ine wahre Erquickung war. Sie können sich denken, wie mir zu Muthe war, thatlo« diesen Enscheidungs- kämpfen zuschauen zu müssen; einmal war ich nahe daran, mein Mandat uiederzuleaen, da e» mir unverantwortlich schien, den Wahlkreis in dieser Weise unvertreteu zu lassen, und nur da« Zureden der Freunde hat mir den Muth ge geben, die« zu unterlassen. Sie wissen, daß ich durchaus nicht zu jenen gehöre, die bestehende Nothstände der In- dustrien ianoriren zu können glaubten, wenn eine Hülfe wirklich möglich war, und man durfte ja auch nach der An- ordnung der beiden Snqukten glauben, daß der Weg der sorgfältigen Untersuchung und Erwägung im einzelnen ein- geschlagen wurde; da« ist nun in einer Weise inaugurirl worden, die ich für grundverderblich halte, nicht nur/ weil sie durch die ohne jede Untersuchung über Hal« und Kopf angenommenen Zölle wahrscheinlich mehr Industrien schädigt al« beschützt, sondern hauptsächlich, weil sie in unser parla mentarische« Leben zum ersten male jene., rücksichtslose Ver tretung der einzelnen Interessen hineingetraaen, die der Tod jeder politischen Moral ist. Ebenso würde ich ja die finan zielle Selbständigmachung de« Reiches mit Freuden begrüßt haben, wenn sie nicht, wie e« jetzt der Fall ist; ausschließ lich zu Lasten der consumirenden untern Klaffen geschehen wäre, denen man dafür einen sehr unsicher» Wechsel auf dir Zukunft aulgestellt hat. Ich könnte in beiden Beziehun gen nicht« Bessere» sagen, al» Minister vr. Delbrück in seiner ausgezeichneten Schlußrede ausgesprochen hat.. Ich gestehe auch, baß mir diese Rücksichten auch noch höher stehen, al« der Fränckenstein'sche Antrag, so sehr dessen gegen den Geist der Verfassung gerichtete Tendenz mir auch allein da» Ganze unacceptabel gemacht hätte; dazu kommt noch der Mangel aller konstitutionellen Garantien, der nur zur Folge gehabt haben kann, daß jede» künftige Widerstreben de» Reichstage« den Charakter eine» acuten Lonslict« an- nehmeu muß. Gestatten Sie auch noch einem Laudwirthe, zu sagen, daß ich die Getreidezölle für gefährlich uud für die Landwirthschaft nutzlos, die Biehzölle als directe Be schädigung der Landwirthschaft in vielen Gegenden und die Holzzölle als die ungerechtfertigtsten ansehe. Daß mit der wirthschaftlichen Reaction die politische im Zusammenhang« steht, wird vielleicht die nächste Zukunft erweisen. Die Logik der Lhatsachen, um einen alten Spruch zu gebrauchen, wird hier auch stärker sein, al» wohlmeinend« Beueitätrn. Dem gegenüber ist der liberalen Partei feste« Zusammenhalten und entschiedene» Auftreten nothwradig; kür den Augenblick gilt r» nur, zu retten, wa» zu retten ist, aber für die Zukunft ist nur auf diesem Weg« Erfolg möglich. Daß meine Wähler selbst unter solchen erschweren den Umständen mir ihr Vertrauen bewährt haben, erkenne ich dankbar an; ich kann dem entgegen nur einfach per- sprechen, daß ich e« mir zu verdienen fachen werde. Ich denke vor dem nächst«» Rrich«tagr sicher zu Ihn«» zu kom mt», doch bin ich in Plänen recht vorsichtig geworben, Nach dem mir der Sommer »k«se» Jahre« so zugrsetzt. Mik herz lichsten Grüßen, die ich auch an Ihre Umgebung zu bestellen bitte, Ihr ergebe»st«r Franz Frhr. v. StaufsMerg. Nach Verlesung diese« Briefe« wattii. sämmtliche Redner einig, daß man in der betreffenden BertrauenS- adreff« in ganz energischer Weise die eingeschlagene Zollpolitik überhaupt und speciell das Borgeheu der klerikal-conservativen Majorität verurtheilen müsse; auch sollte in der betreffenden Adresse die volle Billi gung der Anschauungen de» Reich«tag«abgeord»eten de- Kreises au-gesprochen werden. Da» Vorhaben wurde von der Versammlung mit allen gegen eine Stimme genehmigt und da» Wahlcomite mit Abfassung der Adresse beauftragt." Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung begleitet die Ausführungen de» Frhrn. v. Stauffenberg mit folgenden nicht eben zarten Bemerkungen: fesselt «ine lebhaft grsticulirende Gruppe seine Augen. Eine Dame kann sich offenbar nicht mit ihrem Droschkenkutscher verständigen; hülfisuchend blickt sie um sich; andere treten hinzu, um behülflich zu sein, aber, vergeben». Da plötzlich kommt auch mit gesenktem Haupt und betrübtem Antlitz sein junger Postsecrctär, wird anfmerksam, intervenirt eben falls und stehe dal — da« geängstigte Gesicht der Dame erhellt sich und sofort ist fie i» lauter Unterhaltung mit dem hiilfreichen Fremdling. Neugierig, welche Sprache dieser so gut spricht, läßt der.Generalpostmeister ihn uoch einmal zu sich heraufbitten und erfährt hier, daß er mit der Dame spanisch gesprochen habe, außerdem aber auch fran zösisch, englisch, italienisch und russisch geläufig spreche und schreibe. Einen so sprachkundigen Postsecretar behielt er natürlich gern in seiner Nähe: bald vertraute er ihm die Ausarbeitung des schwierigen Postetat» an, und der junge Secretär rechtfertigte da« ihm geschenkte Vertrauen glänzend und ist heute selber — Gcneralpostmeister" — Am 18. Juli wurde ein junger Elefant vor da« Poliztigericht in London geführt, um al« Zeuge in einem Schadenersatzproceß zu dienen, welcher gegen die Herren Bertram und Robert« von einer Miß Thurman angestrengt worden war. Die Dame stand in ihrem Wagen auf, al« der Elefant in der Nähe der Alexandra-Palaste« erschien und dir Pferde scheu wurden. Sie stürzte und brach ein Schlüsselbein. Der Gerichtshof lehnte die Vernehmung de« originelle» Zeugen ab, der sich inzwischen damit beschäftigte, mit seinem Rüffel die Hüte unter den Tisch zu werfen. — Die Humanität, die alle Welt beleckt, hat sich noch nicht nach Finland erstreckt. AuS Helsingfor« meldet da» Tag blad, daß in Abo vor einigen Tagen eine Person, die eie« alte Matte im Werthc von k Pf. gestohlen hatte, zu leb«nr- länglicher Gefängnißstrafe »«rurtheilt wurde. In Fillland gelten bekanntlich Heutigentage« noch die ganz veralteten provinziellen Gesetz«, die, namentlich wa« Diebstahl an betrifft, Strafen von unerhörter Strenge festsetzeu.