Volltext Seite (XML)
Krieg gegen die Türkei konnte Rußland nicht gegen den Willen Deutschland- führen und eS hat ihn mit dem Rückhalt deutscher Freundschaft geführt. Aber hier war auch die Grenze: weder ein Versprechen, noch auch irgendein anderer politischer Grund durfte Deutschland bewegen, mehr als den Krieg gegen die Türkei zu unterstützen; sobald der Zusammenstoß mit den Interessen anderer europäischer Staaten in Frage kam, hörte jene- Verhältniß auf. Da» hat man in Europa begriffen, und dies Europa begreiflich zu machen, scheint uns der Inhalt der deutschen Politik während dcS OnentkriegeS gewesen zu sein. Man hat recht offen von russischer (natürlich nichtamtlicher) Seite die Forderung ausgestellt, Fürst Bismarck solle Oesterreich opfern. Diese Forderung tritt noch jetzt deutlich in der russischen Presse hervor. Dazu wird «vS aber keine politische Dankbarkeit, dazu wird uns sogar keine Gefahr noch Drohung vermögen, und das zu fordern hat weder Rußland noch sonst jemand in der Welt das Recht. Aber gerade auf diesem Gebiete getäuschter Er wartungen, die aus heißblütiger Phantasie entsprangen, liegt der Same des Unwillen-, der heute in Rußland in den Halm schießt. Die realen politischen Verhält nisse sind indcß solche, daß jener Unwille vergeblich au der staatlichen Freundschaft rüttelt. Seit dem Berliner Frieden ist Rußland damit beschäftigt, die Liquidation des orientalischen Geschäfts zu Ende zu bringen. Schritt für Schritt hat es seit dem Frieden vom 8. Febr. die Positionen geräumt, die Bestim mungen de« Berliner Frieden- «Heils erfüllt, theils zur Erfüllung vorbereitet. Neben dieser Haltung der russischen Regierung tauchten hier und da Verwickelungen oder Gefahren auf, welche vielfach aus russischen und slawischen Quellen genährt wurden und die Haltung Rußlands selbst verdächtigten. Wir zweifeln nicht, daß die deutsche Politik hier ebenso eifrig bemüht gewesen ist, zu versöhnen als vorher, und zwar bis auf die letzten Tage herab, wo, wie inan meint, die ostrumelischen Angelegenheiten ernste Berathungen in den Cabineten hervorgerufen haben. Es ist klar, daß man von Berlin aus eifrig bestrebt ist, die Ausführung des Berliner Friedens zu fördern, ein Ziel, zu dem sich die russische Regierung selbst bekennt. Aber das ge rade macht man uns zum Vorwurf. Offenbar gibt eS Bestrebungen, welche wünschen, die Ausführung möchte vereitelt werden, eS gibt Leute, welche sich ärgern,- daß die russische, Regierung auf dem Wege der Ausführung fortschreitet und dazu die Hülfe Deutsch lands findet. ' Biele hattet gehofft, der Vertrag von Berlin werde nicht zur Wirklichkeit gelangen, viele hoffen es noch heute. Wir können nicht sagen, daß wir sehr festen Glauben an das vorgezeichnete Pro gramm im Orient hegten; aber wer wollte ernstlich es der deutschen Staatsleitung verdenken, wenn sie sich bestrebt, Rußland bei Ausübung seiner Pflicht be- hülflich zu sein? Ist es nun wol noch der Mühe Werth, nachzu- forschcn, inwieweit etwa die Pestaffaire oder die Zoll politik des deutschen Kanzlers Grund gegeben haben zu einer Aenderung in unsern Beziehungen zu Ruß land? Hat Rußland wol jemals daran gedacht, seinen hohen schutzzöllnerischen Tarif Deutschland zu Liebe herabzusetzen? Hat Deutschland das auch nur amtlich verlangt? Wie käme denn die russische Re- sw gierung dazu, un- anzuklagen, daß wir vorsorglich der Pest entgegentraten und wenigsten« da- bewirkten, daß man in Rußland gegenwärtig sorgfältig jede Epidemie beobachtet? Und endlich, sollen wir nochmals daran erinnern, daß zwisHcn Kaiser Wilhelm und Zar Alexander kein Zwist bestehen kann? Soweit wir sehen, ist nicht» geschehen, was un sere Beziehungen zu Rußland ändern könnte. Es läge wenig gesunder Sinn darin, gegenwärtig plötzlich die alten Beziehungen zu Rußland abzubrechen oder zu ändern. Neue Motive liegen dazu nicht vor und die alten Gründe der Freundschaft bestehen fort. ES ist richtig, daß die Stellung, in welcher die drei nordischen Mächte sich gcgenüberstanden, durch die Errichtung des Deutschen Reiches eine merkwürdige Aenderung erfahren hat. War eS früher Rußland, das zwischen den rivalisirenden deutschen Mächten die Vermittelung übernahm oder die führende Stelle unter ihnen hatte, so ist eS jetzt Deutschlands Aufgabe, das Verhältniß zwischen Oesterreich und Rußland im Aus gleich zu halten. Aber wir sehen keinen Grund ein, warum gerade Rußland sich darüber beklagen sollte. ES ist richtig, daß der orientalische Krieg die euro päische Front, die geAn Deutschland stand, dem Süd- osten zugekehrt hat. Warum aber sollte man in jeder Verbesserung der Stellung eines Nachbarn einen Schaden sehen und jede Verschlechterung mit Be friedigung begrüßen, während es doch der einfache gesunde Menschenverstand lehrt, daß die Verhältnisse am längsten dauern und am fruchtbarsten ausfallen, in denen sich jeder Theilnehmer so behaglich als mög lich fühlt? Wir möchten die ereiferte russische Presse bitten, auch von diesem Gesichtspunkt die Beziehungen zu Deutschland einmgl zu betrachten." Bom Deutschen Reichstage. (9 Berlin, 31. März. Präsident vr..v. Forcken- beck eröffnete die Sitzung um 12 Uhr 50 Min. mit folgender Ansprache: Infolge de« in der Sitzung vom 27. März dem Prä sidium ertheilken Auftrages, Sr. Maj. dem Kaiser, Ihrer Maj. der Kaiserin, Ihren kaiserl. und königl. Hoheiten dem Kronprinzen und der Kronprinzessin di« ehrfurchtsvoll innige Theilnahme des Reichstages bei dem so plötzlichen Tode des Prinzen Waldemar auszusprechen, hat das Präsidium des Reichstages die betreffenden Audienzen nachgesucht. Se. Maj. der Kaiser hat darauf gestern Nachmittag um 3 Uhr das Präsidium des Reichstages in längerer Audienz huldreichst empfangen und das Präsidium ausdrücklich be auftragt, dem Reichstage seinen tiefgefühlten Dank für die ausgesprochene MpillEiezu übermittele Unmittelbar daraus geruhten JhreWfaj, die Kaiserin, das Präsidium des Reichstages zu empfangen und den Ausdruck der Theil nehme entgegenzunehmen. Ihre Maj. die Kaiserin beauf tragte das Präsidium ebenfalls, ihren tiefgefühlten Dank dem Reichstage auszudrücken. Heute, Morgen 11'/, Uhr empfing Se. kaiserl. und königl. Hoheit der Kronprinz das Präsidium. Kaiserliche Hoheit sprach in lebendigen, warmen Worten für die ihm wohlthuende Kundgebung der Theil nahme seinen besondern Dank aus und beauftragt« uns noch insbesondere, dem Reichstage mitzutheilen, wie tief es ihn gerührt habe, daß die erste Kundgebung der Theilnahme, die er überhaupt empfangen, die des Reichstages in dem betreffenden telegraphischen Sitzungsberichte gewesen sei. Die Mitglieder des Hauses haben diese Mitthei- lung stehend enlgegengenommen; der von der social demokratischen Fraction allein anwesende Abg. Kayser setzte sich, sobald die auf Se. Maj. den Kaiser per sönlich bezüglichen Woxte vorüber waren. Eingegangen ist ein Entwurf betreffend die An fechtung von Rechtshandlungen eine» Schuldner» außer- halb de« Concur-verfahren». Erster Gegenstand der Tagesordnung ist die erste Berathung des von dem Abg. Reichensperger-Olpe vorgelegten Gesetzentwürfe» betreffend den Zinsfuß und die Wechselfähigkeit und in Verbindung damit erste Berathung de» von den Abg. v. Kleist-Retzow, v. Flottwell und Frhr. v. Marschall vorgelegten Ge setzentwurfes, den Wucher betreffend. Der Neichensperger'sche Enlwudf will die Höhe de» gesetzlichen Zinsfüße» im allgemeinen auf ü Proc., bei Handelsgeschäften auf 6 Proc. und nur unter ganz besondern, genau bezeichneten Voraussetzungen auf 8 Proc. normirt wissen. Der deutschconservative Gegenantrag bezweckt ledig lich eine Erweiterung de» Strafgesetzbuches, welche hinter Z. 302 eingeschaltet werden soll und darauf abzielt, gewerbsmäßigen Wucher zu ahnden und beson der- diese Novelle auf die Pfandleiher und Rückkaufs händler zu beziehen. Die Strafen variiren in der Höhe von 1500—3000 M. und kann eventuell auch Gefängnißstrase hinzutreten und Aberkennung der bür- gerlichen Ehrenrechte ausgesprochen werden. Für den Fall der Ablehnung seine« Principalau- trageS hat Abg. Reichensperger einen Eventualantrag eingebracht, welcher im ganzen mit dem deS Abg. v. Kleist-Retzow concurrirt, jedoch höhere Strafen an gedroht wissen und die Wechselfähigkeit auf in da« Handelsregister eingetragene Kaufleute und Gewerbe betreibende Grundbesitzer beschränkt sehen will. Abg. Reichensperger-Olpe: Die durch das Gesetz von I867 eingeführte Zins- und Wucherfreiheit widerspricht dem Rechtsbewußtsein des Volkes, und die dringliche Nothwendigkeit einer Remedur ist in der Presse und den bairischen Kammern hinlänglich be wiesen worden. Ein solcher Widerspruch zwischen Gesetz und Moral darf nicht fortbestehen. Das gesetzliche Zins maximum von 6 Proc. ist das richtige, weil es dem landes üblichen Zinsfuß entspricht. Außerdem will ich für Aus- nahmesäüe nach Feststellung der Angemessenheit durch den Amtsrichter bis zu 8 Proc. znlassen, ein Satz, der im römischen Kirchenstaat galt und den beliebten Satz vom kanonischen Zinssatz Mustrirt. Die Zinsfreiheit bewirkt auch in den käpitalreichsten Ländern eine Erhöhung de» Zinsfußes, und damit tritt, wie Mill und Engel erwiesen haben, eine Entwerthung de« gesummten werbenden Ka pitals ein. In Frankreich wie m den meisten Territorien der Vereinigten Staaten Amerikas bestehen strenge Wncher- gesetze. Die Justiz steht dem Wucherer nicht ohnmächtig gegenüber: Bei fämmtlichen Wucheranklagen in Preußen find nur 15 Proc. Freisprechungen erfolgt, Will man kein gesetzliches ZinSmaximum, so muß wenigstens der gewöhn- mener eventueller Antrag. Die conservatlpe Partei dieses Hauses ist liberaler al« da» liberale belgische Ministerium, indem sie die österreichischen Strafbestimmungen in ihren Antrag ausgenommen hat. Indessen ein jede« Gesetz, mag es lauten wie es will, das dem Wucher entgegentritt, wird eine Wohlthat sein. Eine sichere Wirksamkeit desselben ist aber nur zu erwarten bei Einschränkung der absoluten all gemeinen Wechfelsähigkeit, mit der wir einzig in allen Län dern dastehen, aüf die in das Handelsregister eingetragene« Kaufleute. . Abg. v. Kleist-Retzow: , - Das Wort „Wucher" ist seit einer Reihe von Jahren aus unserer Gesetzgebung geschwunden, aber der Begriff und die Auffassung des Wuchers ist nicht aus dem Leben des Volkes geschwunden, und darum auch der Name nicht aus dem Munde de« Volke«. Die Wucherer fressen sich in eine wirthschaftlichr Existenz ein wie die Würmer in einen absterbenden Baumstamm, und umlagern sie wie die haben der Dame nicht gefallen, und beim Beginn de« Stücks erfahren wir, daß dieselbe seine weitere An näherung sich verbeten und ihre Gesellschaftsdame mit der Mission, ihn entschieden abzuweisen, beauftragt hat. Der unermüdliche Kämpfer siegj aber mit etwas ver brauchten Mitteln, die indeß nicht ohne Glaubwürdig keit sind, und steht bald dem Gegenstände seines In teresses wieder gegenüber. Der Kampf der Ablehnung von feiten der Dame wie die takt- und geistvolle Be harrlichkeit des Kämpfenden und der endliche Sieg desselben sind in feiner und fesselnder Weise geschil dert und wurden von Frl. Ulrich und Hrn. Dettmer mit der gewohnten Annehmlichkeit ansgeführt. Im zweiten Stück gibt ein lebenslustiger junger Mann einem andern, dem die Langeweile das Le ben verbittert, den Rath: er solle, um sie zu bannen, sich nichts ängstlich vornehmen, sondern sein Geschick blind dem Zufall überlassen und ungewöhnliche Wege gehen. Gewiß ein romantischer Nath, den schwärme rische Gemücher mit Lust ergreifen werden, obgleich er der Erfahrung bedenklich vorkommen muß. Hier im Lustspiel hat der Rath natürlich sehr gute Folgen. Der Berather gewinnt mühelos eine schöne, liebens- werthe Frau, und der Rathgeber verliert, wie zur Strafe, eine in Aussicht genommene Braut. Man sieht, diese beiden Kleinigkeiten zeigen entgegengesetzte Lebensanschauungen und Wege. Im ersten Stück ge winnt beharrliche Thatkraft und geistige Bedeutendheit den erstrebten Preis des Lebens. Im zweiten erreicht ein Glückskind ohne sein Dazuthun denselben Preis, den eS sich in der Folge nun erst verdienen muß. Auch diese Gabe, von Frl. Ellmenreich und den Herren Dettmer, Richelsen, Löber und Erdmann trefflich ge spielt, fand Beifall. Der interessanteste Gast des Februar, der begreif licherweise Staunen erregte, war der elfjährige Violin virtuose Mauricio Dengremont aus Rio-de-Janeiro. Der anmuthige Knabe ist noch von dem ganzen rührenden Reiz seiner Jahre umflossen, und nur wenn er das Instrument mit seiner kleinen Hand behandelt, bricht die unbewußte göttliche Flamme der Kunst aus der noch unentwickelten Hülle mit einer Macht und Ucber- zeugung hervor, daß alkr Glauben an eine nur künst liche Dressur vernichtet wird. Ebenso überraschend wie daS tiefe Gefühl sind die Kraft und die Leichtigkeit, mit der die technischen Schwierigkeiten überwunden werden. Er spielte Cvm- positionen von Beethoven, Mendelssohn, Beriot rc., wie es jetzt üblich, aus dem Kopfe und hatte das Alt städter Hoftheater jedesmal stattlich gefüllt. Wenn man den großen Orden auf deS Kindes Brust erblickt, möchte man beten, daß so früh gespendete Ehrenzeichen nicht die Dämonen unsers Lebens vor der Zeit wecken. Wer trauerte nicht um einen vor der Zeit vernichteten kindlichen Frieden? Ein weiterer Gast auf dem Hoftheater war Frl. Lehmann, zugleich Bewerberin fürs Fach der muntern jugendlichen Liebhaberinnen. Sie ist ein noch unent wickeltes, aber frisches, ansprechendes Talent. Neu einstudirt waren vier Werke verschiedenster Gattung, Vjie die verschiedensten Verlangen auf dem Gebiete dramatischer Kunst zu befriedigen vermochten: „Martha", „Othello", „Der fliegende Holländer" und „Uriel Acosta" als Gedächtnißfeier für Karl Gutzkow. Idealisten wie Realisten konnten sich besonders an den hohen Mustergestalten weiblicher Pflichttreue erheben, die von den Damen Ellmenreich und Malten in schö ner Verklärung geboten wurden. Ob die Maschinerie mit den Schiffen im „Holländer" so große mechanische Geschicklichkeit zu entwickeln nöthig hat, möchten wir bezweifeln. Um die Illusion zu unterstützen, muß man vieles nur andeuten, was, ausgeführt trotz meisterhaf ter Behandlung, hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. In „Martha" versuchte sich der noch dem Conserva- törium ängehörende Hr. Götze als Lionel in einer großen Aufgabe und bestand ehrenvoll. Eine verun glückte KranzdeMonstration hatte ein komisches Miö- verständniß zur Folge und verrieth bei einem jungen Novizen einen zu zeitigen Durst nach Lorber. Die Correspondtnz Hoffmann berichtet au« München vom 28. März: „Die Spitzeder hat in Fürth eine würdige Nachahmerin gefunden. Die Frau des Schuh machers Müller hat es, obwol die Eheleute in schlechten Vermögensverhältniffen leben, verstanden, eine große Anzahl von Personen zur Darleihung von Geldbeträgen zu veran lassen. Sie zahlte ganz beliebige Zinsraten, z. B. 10 Proc. wöchentlich, und brachte es so zu Wege, daß die Gesammt- snmme, um welche es sich jetzt handelt, mindesten» 120000 M. beträgt. Neben Wohlhabenden sind auch Leute, die nur geringe Mittel besitzen, betheiligt." — Der in Petersburg erscheinende Regierungsbote vom 26. März hat aus Rjäsan folgende Depesche erhalten: „Infolge der heftigen Schneestürme am 21. und 22. März sind hier bisjeht 22 Leichen Erfrorener aufgesunden worden. Der Eisenbahndienst ist eingestellt. Viele Pferde sind während des Orkans umgekommen."