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mit den Regierungen im Buudcsrathe vereinbart werden. Beginnen wir nun mit den in letzter» Bereich einschlagenden Bestimmungen der Gesetzesvorlage, so haben wir schon sogleich beim Erscheinen derselben der Auslieferung eines Abgeordneten durch den Reichs tag selbst an den Strafrichter widersprochen. Da der gleiche Widerspruch sogar von hochconservativen Or ganen, wie die Neue Preußische Zeitung, erhoben worden ist, so glauben wir darüber kein Wort weiter verlieren zu sollen. Die strafrechtliche Unantastbarkeit (Immunität) der Volksvertreter in Bezug auf ihre parlamentarischen Reden und Abstimmungen ist in allen Ländern stets als eine Lebensbedingung des Constitu- tionalismus betrachtet worden. Wir kommen zu dem in tz. 3 unter 3) dem Reichs tage zugcsprochenen Rechte der Ausschließung eines Mitgliedes entweder für kürzere Zeit oder auch auf die ganze Legislaturperiode, eventuell unter Entziehung des Rechts, wieder gewählt zu werden. Letztere Strafgewalt des Reichstages erschiene uns unter allen Umständen als höchst bedenklich und als schlechterdings unannehmbar. Man vergesse nur nicht, daß derartige äußerste Maßregeln zwar in gewöhnlichen Zeiten nicht leicht miSbräuchlich angewendel werden, wohl aber in Zeiten ungewöhnlicher Erregung oder auch des ein seitigen Sieges einer Partei über die andere. Der Trost, den die Norddeutsche Allgemeine Zeitung in dieser Hinsicht speciell den liberalen Parteien gibt, daß sie Vergewaltigungen von feiten ihrer konserva tiven Gegner, auch wenn diese noch so übermächtig sein sollten, nicht zu befürchten hätten — dieser Trost ver fängt nicht angesichts der geschichtlichen Erfahrungen, welche zeigen, daß gerade conservative Mehrheiten einen solchen Terrorismus ausgeübt haben. Oder sind die Beispiele vergessen, wo eine ultraroyalistische Kammer in Frankreich einen Manuel, eine ultraservile in Wür- temberg einen Fr. List ausstieß? Und das sogar ohne eine verfassungsmäßige Autorisation dazu. Wie möchte es erst gehen, wenn eine solche gegeben wäre! Das sind geschichtliche Thatsachen! Die Norddeutsche Allge meine Zeitung möge doch so gut sein, einen ähnlichen geschichtlichen Beweis anzutreten betreffs einer Terrori- sirung conservativer Minoritäten durch liberale Majo ritäten! Eine Ausschließung für die laufende Session (nicht die ganze Legislaturperiode) würden wir — als äußerstes Mittel bei sehr grober Verschuldung — nicht geradezu verwerfen wollen. Eine Wählerschaft, die einen Ab geordneten zum Reichstage entsendet, der die Würde des letzter» so stark schädigt, daß man zu solchen Mit teln gegen ihn greifen muß, hat eS sich selbst zuzu schreiben, wenn sie für den Rest einer Session un vertreten bleibt. Für „Verweis" und „Abbitte" (§. 3 unter 1 und 2) möchten wir uns nicht erklären. Beides hat etwa« gar so Schulmäßiges, führt auch in der Praxis (wie Beispiele aus der englischen Parlamentsgeschichte zeigen) leicht zu neuen Auflehnungen des davon betroffenen Mitgliedes und damit zu neuen Störungen der par lamentarischen Ordnung. Eher würden wir einer Maßregel zustimmen können, die unsers Wissens im französischen Parlament besteht, einer vom Reichstage auszusprechenden und im Reichstagsprotokoll nieder zulegenden Rüge, die aber nicht, wie der „Verweis", direct an den davon Betroffenen selbst zu richten wäre. Als da- Wichtigste erscheint un» übrigens nicht so sehr djeS, daß eine die Würde de» Reichstage« verletzende oder gar verbrecherische Aeußerung eines Redners hinterher an diesem geahndet, als vielmehr, daß eine solche möglichst rasch unterbrochen und so ihre j Wirkung entweder verhindert oder doch abgcschwächt werde. Zn unsern Augen ist daher das Bcdürfniß ! einer Verschärfung der DiSciplinargcwalt der Präsi denten (und selbstverständlich einer energischen und auf merksamen Handhabung der so verschärften) allererstes Bedürfniß. Gegenwärtig kann erst nach zweimaligem Ordnungsruf eine Entziehung des Worte» stattfinden, ! und auch dann nicht sofort durch den Präsidenten ! selbst, sondern nur auf Berufung desselben durch die Versammlung. Diese Sachlage ermöglicht es einem auf Ausschrei tungen ausgehenden Redner (und deren gibt eS ja leider), die ärgsten Dinge wiederholt zu sagen und so wenigstens nahezu seinen Zweck zu erreichen. Wir wür den es unbedenklich finden, dem Präsidenten daS Recht einer Entziehung des Wortes sogleich beim ersten male, wo ein Redner sich gegen die parlamentarische Ord nung vergeht, einzuräumen — vorbehaltlich der Be rufung des so unterbrochenen Redners an das Plenum. Der Discretion des Präsidenten dürfte man vertrauen, daß er ein solches Recht nicht misbrauchen würde. Wenn der Präsident das Recht hat, einem Redner bei einer ganz maßlosen Aeußerung (und nur in solchen Fällen wird dieses geschehen) sofort das Wort zu ent ziehen, und wenn der Präsident seine Schuldigkeit thut, so kann kaum viel mehr als Ein unziemliches Wort oder höchstens eine kleine Folge solcher in die Oeffent- lichkeit dringen. Daß eine vom Präsidenten als ordnungswidrig gerügte und unterbrochene Aeußerung auch aus dem Stenographischen Berichte wegzulassen wäre — auf Anordnung des Präsidenten, von der natürlich gleich falls an den Reichstag appellirt werden könnte—, auch dawider würden wir nichts haben. Doch möch ten wir nicht, daß alsdann auch jede andere Veröffent lichung durch die Presse schlechthin „verboten" würde, vielmehr würden wir es für genügend erachten, wenn in solchem Falle die in Art. 22 der Neichsverfassung den „wahrheitsgetreuen Berichten über Verhandlungen des Reichstags" zugesicherte Straflosigkeit wegsiele. Schwerlich würde so leicht ein Redner oder der Re dacteur eines Blattes wagen, eine vom Präsidenten und vom Reichstage selbst zur Ausschließung von dem Stenographischen Bericht« verurtheilte Aeußerung auf seme Gefahr drucken zu lassen, und doch , sind wiederuni äußerste Fälle denkbar, wo ein solcher Appell an die Oeffentlichkeit und beziehentlich an die Gerichte die ein zige Schutzwehr eines Redners gegen Terrorisirung durch eine parteiische Majorität sein könnte. So viel über die materiellen Bestimmungen des Entwurfs! Die Bildung und Zusammensetzung der „Commission" ist für uns im Vergleiche dazu etwas Nebensächliches. Wir kommen darauf vielleicht ein andermal zurück. Deutsches Reich. X Serkin, 20. Jan. Mit einer gewissen Beharr lichkeit taucht in der Presse wieder das Gerücht auf, der Gesetzentwurf über die Strafgewalt des Reichstages sei bereits zur Zeit der letzten Neichs- tagssession im Angriff gewesen, damals aber von dem die Regierung führende» Kronprinzen nicht genehmigt worden. E» ist dies eine reine Erfindung, wie es das frühere schon dementirte Gerücht war, der Reichs kanzler habe eine nochmalige Auflösung de» Reichs tages verlangt, der Kronprinz aber habe diese« Ver langen zurückgewiesen. Mit derselben Beharrlichkeit wird da« weitere Gerücht colportirt, das StaatSmiui- stcrium habe von dem im Namen des Kaisers einge brachten Gesetzentwürfe über die Strafgewalt de» Reichstages nicht die mindeste Kenntniß gehabt. Auch dieses Gerücht ist wörtlich unwahr, und rein erfunden ist die Behauptung, daß die Vorlage dem preußischen StaatSministerium darum nicht mitgetheilt worden sei, weil sie als Präsidialantrag im Namen des Kaisers, nicht aber im Namen der Reichsregierung an den BundeSrath gelangt sei. Neuerlichst ist die Annahme in Umlauf gebracht worden, der Reichskanzler habe in vertraulichen Aeußcrungen über die Annahme der Vorlage betreffend die Strafgewalt des Reichstage« erklärt, daß er auf die Annahme keinen unbedingten Werth lege; der Gesetzentwurf sei nicht sowol im Interesse der Reichsregierung als . im Interesse de» Reichstages cingebracht. Mit dem Aufkeimen dieser Annahme scheint die Geneigtheit der national-liberalen Partei zu wachsen, den berechtigten Kern der Vorlage zur Geltung zu bringen. Die Wirkung dieser wach senden Geneigtheit der national-liberalen Partei gegen über den erwähnten, übrigens bisjetzt nicht verbürgten Aeußerungen des Reichskanzlers ist nicht gerade un erklärlich, wenn man bedenkt, wie schwer es dem Reichstage werden dürfte, die moralische Verantwort lichkeit für eine zunehmende Entartung der parla mentarischen Sitten zu tragen. Andererseits weiß man vom Reichskanzler, daß er nirgends, wo es sich um einen sachlichen Zweck handelt, einen entscheidenden Werth auf die Form zu legen pflegt. Dem Reichs tage wiederum wird das praktische Eingehen auf die Frage in dem Grade erleichtert, als die Schwere eines moralischen Druckes wegfällt. Die Vorgänge in der Sonnabendsitzung des Abgeordnetenhauses, in welcher Hr. v. Bennigsen erklärte, die Nichtangehörigen des Hauses gegen Beschimpfungen nicht schützen zu können, werden dazu beitragen, die Worte des Reichs kanzlers und die Einbringung seiner Vorlage in wei tere Kreise zu tragen und allgemeiner zur Anerken nung zu bringen. Sagt doch die National-Zeitung in ihrer Sonnabendsnummer: „In der That leidet die Würde des Hauses, wenn eS gezwungen wird, einen Ausdruck wie «niederträchtig» auch nur .anzu hören, gleichviel gegen wen sich derselbe richtet/' — Der Neuen Frankfurter Presse berichtet man aus Berlin vom 20. Jan.: „Es verlautet, der Reichs kanzler würde die Vorlage wegen der Strafgewalt des Reichstags znrückziehen und zunächst dem Reichs tage die Initiative überlassen." — Wie die-Tribüne» von guter Seite hört, soll sich schon jetzt mit Wahrscheinlichkeit absehen lassen, daß die Mehrheit des Bundesraths sich für dasTabackS- monopol erklären wird. — Anknüpfend an die Willensmeinung des Deut schen Kaisers, anstatt der etwa demselben zugedach ten persönlichen Geschenke den festlichen Tag seiner Goldenen Hochzeit durch Gründung oder Beschen kung von milden Stiftungen zu feiern, bringt die Außer seiner Muttersprache kann der Fürst in drei Sprachen maliciös sein. Er spricht correct englisch, ziemlich fließend russisch und ein vorzügliche« Französisch. Während Moltke «ine Vorliebe für die englischen Novellen der Miß Braddon und Mistreß Henry Wood hat, zieht Bismarck die fran zösischen Novellen vor, je leichter, desto lieber. Feydeau, Edmond de Goncourt und Zola sind seine LiebliugSautoren. Bor etwa drei Jahren hatte ich da« Glück, den Fürsten in seiner Wohnung in der WilhelmSstraße zu besuchen und mich eine gute Stunde mit ihm zu unterhalten. Er rauchte während der ganzen Zeit und bat mich, ein Gleiche» zu thun; ab und zu füllte er sich ein Gla» au« dem ihm zur Seite stehenden Bierkruge. Neben dem Bierkruge befand sich eine ganze Reiht französischer Novellen in gelbem Ein band. Al« ich den geschäftlichen Theil meine« Besuches «rledigt hatte, fragte mich der Fürst, welchen französischen Novellisten ich den Vorzug gebe, indem er mich gleichzeitig mit seinem Urtheile über die französische Literatur bekannt Machte, mit der er, wie ich bald bemerken konnte, vollstän dig vertraut ist. In Erstaunen versetzte mich aber die Naivetät, mit der er an die Wahrheit-treue der Skizzi- rungen der dunklern Seiten de« socialen Leben« Frank reichs glaubte. Er hält die französische Gesellschaft für bi« in« Mark hinein verdorben und ,st gänzlich außer Stande, den guten Eigenschaften gerecht zu werden, welche die bessere französische Gesellschaft zieren. Mit der ihm eigenartigen Derbheit wie« er noch darauf hin, wie die Franzosen immer ihr eigene« Nest beschmuzen und der jüngere Duma« sowie Zola auf den Vorwurf der Uebcrtreibung vor aller Welt verkünden, daß dieser Borwurf ein ungerechter sei. Ich be merkte ihm hierauf, daß, wenn mau England nach den Producten seiner Sensationsnovellisten beurtheilen wollte, man Gefahr liefe, London für den Stammsitz aller Diebe, Fälscher und Bauernsänger zu halten. Nun, ich bin gerade der Meinung, daß der Diebstahl da« Nationallaster der Engländer ist, erwiderte Bi«marck. Bei einer Handel-rasse muß die» schlechterdings der Fall sein. E« gibt in Europa kein Sefängniß, in dem nicht ein englischer Taschendieb säße. Wenn der Diebstahl zum nationalen Trieb sich ent wickelt, so fördert er die ErobcrungSlust; er erniedrigt weder die Moral noch verweichlicht er, wie es die Franzosen sind, die sich von Weibern regieren lassen. Dies brachte uns auf Frankreich zurück, und ich fragte den Fürsten, ob er nicht glaube, daß die republikanischen Institutionen in Frank reich Wurzeln fassen können. Mit besonderm Nachdruck erwiderte er: Nicht« wird den Franzosen dienen, al« von einer festen Hand regiert zu werden; ob der Regierende sich Kaiser oder Republikaner nennt, darauf kommt e« nur wenig an. Es ist de« Fürsten Gewohnheit, jedermann Herunter zureißen, der in der Welt ein« Rolle spielt. Er hat über Lord Beaconsfield schlimmere Dinge gesagt, al« ich hier wiederholen möchte, und oft und viel prophezeit, daß Glad stone, wenn er politisch abgewirthschastet habe, zur römischen Kirche übergehen werde. Al« das Pamphlet „V»tio»oun>" erschien, bemerkte er trocken: Wäre Gladstone nicht ver- hcirathet, so würde er in zehn Jahren Cardinal sein. Mit Mac Mahon ging er noch schlimmer um; al- ihm jemand bemerkte, daß derselbe entschlossen scheine, den Rothen die Zähne zu zeigen, erwiderte er: Bah, Mac Mahon wollte nach dem Hute Napoleon'« greifen und hat au« Versehen Dupanloup'« Bischofsmütze sich aufgesetzt. Leipziger Stadttheater. 8-soK. Leipzig, 20. Jan. Unter dem allerjüngsten Nachwuchs unserer gegenwärtigen dramatischen Autoren hat sich Hugo Bürger durch einige Lustspiele im Stile des ältern französischen Jntriauenlustspiels nicht unvortheil- haft bekannt gemacht. An seinem „Frauenadvocat" und seinen „Modellen des Sheridan" hatte die Kritik das löbliche Streben de» Verfasser« nach einer größern Vertiefung seine» Stoffe», nach Gewinnung eine- über die Seichtigkeit und Trivialität hinau-gehenden gedanken- vollern Dialog» und einer gewissen Natürlichkeit in der Verwickelung und Lösung seiner Fabel anzuerkennen. Das sind zweifellose Vorzüge, durch welche Hugo Bürger sich vor manchen andern seiner dramatischen College», die sich bei weitem größerer äußerer Folge erfreuen, zu seinem Vortheile auSzeichnet. Und wenn auch das neueste Product dieses Schriftstellers, das vorgestern hier zum ersten mal zur Aufführung gelangte vier- actige Lustspiel „Die Adoptirten", nicht ganz den von ihm gehofften Erfolg erzielte, so darf dieses für den jungen, aber entschieden talentbegabten Dramatiker kein Grund zur Entmuthigung sein. Die Gründe, warum die Aufnahme des genannten Lustspiels seitens des hiesigen Publikums eine nur mäßig freundliche war, liegen freilich in der Compo- sition dieser Novität selbst. Zunächst entbehrt die etwas lange Exposition des ersten ActeS jener Klarheit und Durchsichtigkeit, die den Zuschauer der Mühe überheben, in den folgenden Acten immer wieder sich dir ersten Voraussetzungen in Erinnerung rufen zu müssen. Diese letzter» sind aber in den „Adoptirten" sehr verwickelter Art und erleichtern durch ihren wesentlich complicirt- juristischen Charakter das Verständniß nur wenig. Einen ferner» Grund finden wir dann aber in dem zu ernsten Charakter der beiden ersten Acte des Lustspiels. Es fehlen hier fast ganz alle eigentlichen Lustspielele- mente, die nicht immer burlesker Natur zu sein brau chen, um in dem Zuschauer bei dem sich immer mehr complicirenden dramatischen Conflict doch die Empfin dung aufkommen zu lassen, daß er sich einer wesent lich heiter verlaufenden Handlung gegenüber befindet» Wir fürchten hier bis zur Mitte des dritten Act- jeden Augenblick dm Au-bruch eine» tragische» CoufiictS.