Volltext Seite (XML)
Extra Beilage zu Nr. 259 der Dkiltschtli Allgtmriimi Zritnng. Leipzig, 5. November 1870, früh 9 Uhr. Bon Versailles nach Metz. 8 Metz, 31. Oct. „Müßiggang ist aller Laster Anfang", sagt das Sprichwort, und ich habe gewal» tigen Respect vor Sprichwörtern, denn sie sind fast alle nicht wahr; daß da- speciell hier in Rede ste hende nicht zutrifst, werde ich sofort beweisen. Am Sonnabend Morgen flanirte ich noch auf den Ave nuen von Versailles, heute sitze ich in der eroberten Festung Metz, inmitten des buntesten KriegSgetümmelS. Die Sache kam nämlich so. Auf meiner ge wöhnlichen Morgenpromenade auf der Avenue de Paris am Sonnabend tönt mir plötzlich ein barsches: Halt, Werda! entgegen; erschreckt schaue ich auf und blicke in das freundliche Antlitz des Oberproviantmeisters der Armee, dessen Zuvorkommenheit ich schon so manche Bequemlichkeit und Förderung auf meinen Kriegsfahrten zu danken habe. „Was thun Sie hier, warum gehen Sie nicht nach Metz, wo Sie sich die Langeweile auf die angenehmste und nützlichste Weise vertreiben können?"— „Bald gesagt; aber wie hin kommen in diesem abscheulichen Wetter, wo jedermann gern sein Gefährt im Stalle behält? Aber wie ich sehe, sind Sie ganz reisefertig, wohin geht's denn?"— „Nach Metz, und wenn Sie sich entschließen können, sofort mit mir zu kommen, steht Ihnen der noch leere Platz hier zur Verfügung." — „Mit Vergnügen!"— Und im nächsten Augenblicke sauste ich dahin auf der Land straße, ohne meinen Wirthsleuten in Versailles Adieu gesagt zu haben. Ich hatte mich unbewußt einer klei nen Expedition angeschlossen, bestehend aus den drei obersten JntendaMurbeamten der Armee, dem Ge neralintendanten General v. Stosch, dem Geheimrath Goldenberg und dem Oberproviantmeister Berner, welche nach Metz eilte, um die dortige Kriegsbeute zu inventarisiren. Eile that nöthig, und wahrlich, wir ließen es daran nicht fehlen, denn schon am dritten Tage morgens, nach genau achtundvierzigstündiger Reise, trafen wir vor der eroberten Festung ein. Schwerlich ist unter den jetzigen Verhältnissen die circa 50 Meilen lange Strecke schon in so kurzer Zeit zurückgelegt worden. Die Reise von Versailles bis La Ferneres auf den durch die Straßenlocomo- tiven vollständig aufgewühlten Wegen habe ich Ihnen schon neulich beschrieben; von da ab fuhren wir über Coulommeres und La Fcrtc-sous-Jouarrcs nach der momentanen Endstation der Paris-Metzer Eisenbahn, nach Nanteuil, durch eine herrliche Landschaft, die von den Leiden des Kriegs noch gar nicht berührt ist, oder die ihr geschlagenen Wunden bereits wieder ver narben ließ. Ueppige Gemüsefelder wechseln mit saf tigen Wiesengründen ab, der Landmann ist emsig mit der Bestellung der Wintersaat beschäftigt, die Dörfer sind von Menschen und Vieh belebt — überall athmet die Natur Ruhe, Frieden, Zufriedenheit, welche Ge fühle in unserer Reisegesellschaft vermöge des unauf haltsam strömenden Regens allerdings nicht recht zum Durchbruch kommen konnten. Eine Stunde vor Nanteuil wurden wir wieder an den Krieg gemahnt; lange Krankentransporte drohten uns den Weg zu versperren. Die Zerstörungen an Wegen, Brücken und Eisenbahnen nahmen wieder zu. Die Aufräu mung des großen gesprengten Tunnels bei Nanteuil scheint man jetzt aufgegeben zu haben, denn Tausende von Händen sind damit beschäftigt, die Bahn um den Berg herumzusühren und so die Verbindung mit La Ferte herzustellen. Auch einem der windigen Postkuriere aus Paris begegneten wir an diesem ersten Tage: ein majestäti scher Luftballon hob sich aus der Hauptstadt heraus, deren Forts wieder ein lebhaftes Feuer unterhielten, und nahm seine Direction streng westlich; die um fangreiche Gondel, die er trug, ließ die Vermulhung austauchen, ec entführe die letzten Mitglieder der provisorischen Negierung aus der bedrängten Stadt. Zn Nanteuil blieben wir über Nacht, nachdem zuvor noch die Wagen und Pferde auf der Eisenbahn ein geschifft waren. Nanteuil, ein Dörfchen mit etwa 700 Seelen, daS gegenwärtig beinahe soviel Lazarelhe wie Häuser zählt, repräsentirte sich in dem greulichen Reg n- wetler noch schmuziger, als es für gewöhnlich auö- sehen mag; die Einwohner scheinen überhaupt eine Vorliebe für Unreinlichkeit zu haben, denn sie stellten uns wol ein großes Waschservicc, aber kein Wasser ins Zimmer. Ungewaschen und unter schwerer Ver missung des wärmenden Morgenkaffees traten wir an ¬ dern Tags um 4 Uhr die Weiterreise per Eisenbahn an , die uns bis Pont-ä-Mousson führte. Der Blick auf die von uns durchfahrene Gegend blieb uns ver wehrt, der Regen bedeckte die Wagenfenster mit einer dicken, schmierigen, undurchsichtigen Kruste; desto in teressanter war aber die Reisegesellschaft. Sie bestand aus dem ernsten schweigsamen Generalintendanten der französischen Armee, welcher von Metz in die Gefan genschaft ging, und mehrer» Gefangenen der pariser Be satzung, die in zudringlicher Schwatzhaftigkeit Wun derdinge von der Theuerung in Paris zu erzählen wußten. Eine Kartoffel kostete 2 Sous, 1 Pfd. Brot 4 FrS., 1 Pfd. Fleisch 10—12 FrS., Kaffee, Milch, Zucker rc. ist gar nicht mehr zu haben, sagten sie; wenn man ihren Angaben auch nicht unbedingt trauen kann, so darf man doch glauben, daß cS bereits schlimm genug in Paris aussteht. Den Nest der Ge sellschaft bildete ein halbes Dutzend „Armeejungen", Bengels von 14—16 Jahren, die dem 1. Gardere giment aus Potsdam in den Krieg nachgelaufen wa ren und nun per Schub in die Heimat tranSportirt wurden. In Epernay langten wir zur Frühstückszeit an; schon freuten wir uns des abermaligen Genusses reinen Champagners an der Quelle, da — ein Bums, ein Krach, und wir begrüßten uns nach Japanesen art, d. h. wir rieben uns gegenseitig mit den Nasen spitzen und fuhren mit den Schädeln zusammen, daß mancher glaubte, es sei um sein armes Leben ge schehen. Unser Zug war auf einen im Bahnhofe hal tenden Train gefahren, den der Zugführer wegen der vorliegenden scharfen Curve nicht zeitig genug sehen konnte, und nur der Geistesgegenwart des Zugperso nals haben wir zu danken, daß wir (buchstäblich ge nommen) mit dem blauen Auge davonkamen. Daß nach überstandener Gefahr der Champagner noch vor züglicher mundete, können Sie sich leicht vorstellen. Die zweite Nacht verbrachten wir in Corny, und heute (Montag) Mittag fuhren wir durch das nun verlassene preußische Lager in Metz ein. Unterwegs begegneten wir langen Zügen Gefangener, die in ihren schmuzigen, durchnäßten Kleidern einen jämmer lichen Anblick boten, obschon die meisten derselben stramme, hübsche Leute waren. Unangenehmer noch wirkte die brüske Bettelei einzelner Soldaten, die für eine Cigarre, ein Stück Brot ihre geringen Habselig keiten, ihre entbehrlichen Kleidungsstücke, ja sogar ihre Orden feilboten. Ich bin fest überzeugt, ein deutscher Soldat ließe sich nicht dazu her, auch in der größten Noth nicht. Von einer eroberten Festung hatte ich mir doch ein ganz anderes Bild in meiner Phantasie zurccht- gelegt, als eS mir die Wirklichkeit bietet; ich glaubte weit herum zerstörte Wälle und Schanzen, zerschossene Häuser, öde Straßen, leere Häuser zu finden. Und was sah ich? Auf etwa eine Meile von dem Platze einige Schützengräben, ein paar guterhaltene Schanzen, äußerst wenige Häuser mit Kugelspuren, in der Stadt eine große Menschenmenge auf den Straßen, lachend, plaudernd, sich drängend und schiebend, und dabei viel, viel mehr französische als deutsche Soldaten, die sich in ihren hübschen, phantastischen Uniformen geberden, als hätten sie die wenigen Preußen überwunden, die sich unter ihnen bewegen. Von der Hungersnoth, welche die Capitulation der Festung bedingte, sieht man nicht das Geringste; man könnte fast glauben, sie habe nie exislirt, wenn nicht hier und da an einem Metzgerladen ein kleiner Zettel mit der Inschrift „llouolrorlo olievuliuv" daran erinnerte. War die Hungersnoth aber kein Phantom, so muß man ge stehen, daß die Stadt sich merkwürdig schnell erholt l hat; die Bäckerladen sind voll Brot, die Fleischer legen die schönsten Stücke Rind- und Hammelfleisch, Wurst und andere Fleischpräparate aus, die Confiseure bieten die delicatesten Leckerbissen feil. Bier findet man in jedem Cafe. Sämmtliche Verkaufslocale sind geöffnet und entzücken durch den Neichthum ihrer Colleclionen das Auge deS Beschauers. Nur Ein Mangel macht sich drückend fühlbar: der an Wohnungsräumen, da eine große Menge Kranker und Verwundeter in der Stadt liegen; selbst höhere Offiziere mußten zu dreien und vieren in Einem Zimmer auf einer bloßen Ma tratze schlafen. Ucber die Stimmung der Bevölkerung in meinem ächsten Briese. Von der deutschen Flotte. 2s Wilhelmshaven, 1. Nov. Wenn jemand in diesem Kriege eine niederdrückende Rolle zugetheilt wurde, so ist dies die Marine, und es gehört wirklich etwas dazu, dabei nicht den Muth zu verlieren. Zu schwach, um gegen die mehr als vierfache Uebermacht der feindlichen Flotte im Kampfe auf offenem Meere etwas auSzurichten, wenn wir uns nicht nutzlos opfern und dadurch unsere Flüsse dem Feind preisgeben woll ten, ist eS unsere Aufgabe gewesen, uns auf die Ver« theidigung unserer Ströme, namentlich aber der Jahde und unserS Kriegshafens zu beschränken. Heute sind es gerade 15 Wochen, daß wir hier, abgeschnitten von allem Verkehre, oft wegen schweren Wetters tage lang ohne Postverbindung, in der trostlosen Iahde- mündung auf Vorposten liegen, und nur drei bis vier mal ist dieses schreckliche Leben durch eine Necognosci- rungSfahrt unterbrochen worden. Vergebens haben wir darauf gewartet, daß uns die Franzosen, die eine Zeit lang mit 18 Schiffen, also in mehr als fünffacher Ueberzahl, bei Helgoland lagen, angreifen würden. Sie haben nie Miene dazu gemacht. Als vor längerer Zeit ein Panzerschiff und eine Fregatte nahe vor unsere Mün dung kamen, wurde der „Kronprinz" hinausgeschickt. Der Commandant, Corvettenkapitän Werner, bot ihnen das Gefecht an und jagte beide Schiffe bis Helgo land; aber obwol zwei gegen eins, zogen sie sich auf ihr Gros zurück, mit dem er natürlich nicht anbinden konnte. Die ganze Thätigkeit der gewaltigen Macht hat sich auf Forlnahme einiger wehrlosen Kauffahrteischiffe beschränkt, und ein geringer Trost für uns liegt in dem Bewußtsein, daß sic nicht gewagt haben, unsere paar Schiffe anzugreifen und in unsere Ströme zu kommen. DaS Object, die Zerstörung unserer Pan zerschiffe und unsers Hafens, war doch wahihaflig ein solches, für das schon etwas zu wagen war. Indessen wiegt dieses Bewußtsein keineswegs die schrecklichen 15 Wochen gezwungener und rühmloser Unthätigkeit auf, die wir neben den heroischen Erfolgen unserer Armee um so drückender empfinden. Unter solchen Verhältnissen wird man mürbe und muß alle Kraft zusammennehmen, um durch das eigene Beispiel den guten Geist unter der Mannschaft aufrecht zu er halten. Wir ersehnen deshalb wol mehr als jemand anderes den Frieden, der uns aus unserer peinlichen Lage erlöst. Solange der Krieg währt, hält er uns auf diesem trostlosen Außenposten gebannt, und Sie dürfen mir glauben, daß zu diesem Ausharren auch eine ganze Portion Muth und Selbstverleugnung gehört. Vom Kriegsschauplätze. Der National-Zeitung schreibt man aus Ver sailles vom 30. !Oct.: Ueber den Inhalt des Gesprächs, welches Hr. Thiers heute Bormittag mit dem Grafen Bismarck geführt, ist be greiflicherweise nichts an die Oeffenllichkeit gedrungen. Hr. Thiers lehne g-gen 11Uhr mittags aus der Wohnung des Bundeskanzlers in daS Hotel zurück, wo ihm eine halbe Stunde später im Moment seiner Abreise der Herzog von Koburg begegnete. Derselbe begrüßte ihn, reichte ihm freundlich die Hand und fragte: „Sie kennen mich wol nicht wieder?" ,,O doch, Monseigneur", antwortete Hr. Thiers; „aber wie schrecklich sind die Umstände, unter denen ich die Ehre habe, Sie w.ederzusehen!" und Thränen stürzten ihm aus den Augen. Hr. Thiers theille dann noch mit, daß er spätestens übermorgen von Paris zurllckzukehren gedächte, und trat unter der Escorte eines preußischen Ge- neralstabsosfiziers die Weiterfahrt nach unserer Borposten linie au. Da dort wegen der Verhandlungen mit der fran zösischen Postenkette ein fast anderthalbstündiger Aufenthalt entstand, verließ Hr. Thiers seinen Wagen, und er sowie seine Begleiter (von welchen der eine Hr. Paul de Remu- sat, der Sohn des bekannten Ministers unter LouiS Phi lipp, der andere ein Kammerdeputirler der ThierS'schen Fraction war, dessen Name mir nicht genannt worden ist) unterhielten sich längere Zeit mit einigen preußischen Offi zieren. Der Inhalt ihrer Gespräche ist mir von einem Ohrenzeugen ziemlich ausführlich berichtet wordeu. Hr. ThierS hob besonders hervor, daß er in der Kammer mit aller Enlschiedenheit gegen den Krieg gesprochen. Er ci- tirte einen grogen Theil seiner damaligen Rede und erin nerte daran, daß 40 Deputirte mit wild erhobenen Fäusten ans ihn eingedrnngen seien, ihn beständig unterbrechend, und daß ihm abends eine Katzenmusik gebracht worden sei. Als den Haupturheber des gegenwärtigen Krieg« bezeich- neie er den Kaiser und mehr noch die Kaiserin. Er stellte nicht in Abrede, daß er 1840 mit aller Energie den Krieg gegen Deutschland geschürt habe; allein damals hätten die Dinge ganz anders gelegen, damals sei die Sache Frank reichs eine gerechte gewesen, es habe gegolten, Syrien der Psvite zu eihalten, das von Aegypten bedroht worben, und damals habe man über ei» trefflich gerüstetes Heer verfügt.