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Die Komposition ist neunsätzig. Das Ge wölbe, auf dem sie ruht, bilden drei in tonaler Beziehung stehende Orchesternummern: das „Präludium“ für Streicher, das durch den Aus bruch angestauter Dynamik überrascht. Im „Interludium“ für Bläser gelangt der Choral „Dies irae“ aus dem dritten Satz zur Verarbei tung. Das „Postludium“ in der Art von Toten glocken hebt sich von den vorangegangenen Orchesternummern sowohl durch die Statik als auch durch die Eigentümlichkeit des Klanges ab - speziell sind hier die Streicher ausgeklammert. In der Musik gibt es keinerlei Spuren von Stili sierung — sie bleibt inspiriert von der ver schwenderischen Phantasie des Komponi sten. Jede Nummer wird mit einem besonde ren, einmaligen Kolorit ausgestattet. Die Satz weise ist extrem knapp gehalten: das Überge wicht der Expositions- vor der Durchfüh rungssphäre wird bestimmt durch die Mar- kanz der musikalischen Themen. Meines Erachtens deutet sich hier ein gewis ser stilistischer Umschwung an. Strawinsky behauptete einst, daß die Harmonie eine bril lante, aber kurze Geschichte habe. War nicht dieser Behauptung zum Trotz nach der lan gen Vorliebe für den Kontrapunkt in ihm das Heimweh nach der Harmonie aufgestiegen? Und hat er nicht deshalb auch während seiner langen, erschöpfenden Krankheit, die schließ lich zum Tode führte, von neuem angefangen, Debussy zu hören und dabei „Pelleas und Melisande“ mehrere Male? Inwieweit diese Vermutung gerechtfertigt ist, bedürfte noch der Untersuchung. Auf jeden Fall hat die rus sische Musik nach Skrjabin keine so kompli zierten, ungewöhnlichen und kristallklaren, nicht terzgebundenen Akkordbildungen ge kannt, wie sie den Hörer an Strawinskis Spät werken in ihren Bann schlagen. Michail Druskin (Auszüge aus „Igor Strawin sky“, Reclam-Verlag, 1976) DALLAPICCOLA: CANTI DI PRIGIONIA In seinen ersten Werken schrieb der 1904 ge borene italienische Komponist Luigi Dallapic- cola im Wesentlichen tonal. Er verfolgte die Absicht, alte italienische Instrumental- und Madrigaltraditionen aufzunehmen, ohne aber einem Neuerungen verschlossenen Traditiona lismus zu verfallen. So kam es allmählich zur stilistischen Einbeziehung der Zwölftontech nik, begonnen in den „Tre Laudi“, maßgeblich ausgeführt erstmals in zwei seiner innerlich verwandten Schlüsselwerke: in der Oper „II prigionero“ („Der Gefangene“) und in den 1938-1941 entstandenen „Canti di prigionia“ („Gesänge der Gefangenschaft“). Beide Werke reiften unter dem Eindruck der Krieg sereignisse, die Dallapiccola als Trauma emp fand. Der Ausweg der „Canti di prigionia“ ist der religiöser Demut. Schon die Auswahl der Texte macht dies deutlich: ein Gebet der Ma ria Stuart, eine Anrufung aus Boetius’ „Trost der Philosophie“ und eine Meditation des Gi- rolamo Savonarola über den Psalm 31. Musi kalisch bestehen im Werk die Techniken der traditionellen tonalen Kompositionsweise und der Dodekaphonie nebeneinander - teils deutlich voneinander geschieden, teils mitein ander verquickt. Der Chor ist zwölftönig no tiert, während im Orchester das zentralejg^ 1 alle drei Teile durchziehende Thema desflw kes immer wieder aufklingt: der Anfang Tier mittelalterlichen Sequenz „Dies irae, dies il- lae“, des Gesanges vom jüngsten Gericht aus der Feder Thomas von Celanos. Jeder der Teile des Triptychons besitzt dabei eine ganz spezifische kompositorische Architektur, de ren Gepräge unter anderem von Dallapiccolas äußerst verfeinertem Sinn für Klangfarben be stimmt wird. Trotz kräftiger Akzente, klangli cher Aufschwünge, darf man in der Komposi tion nicht die lebenspralle Kraft und dramati sche Spannung suchen, die man in Komposi tionen mit religiöser Thematik etwa eines Bach, Brahms oder Penderecki (um nur drei Namen aus drei Jahrhunderten zu nennen) findet. In den „Canti di prigionia“ dominiert Verfeinerung und Kontemplation. DURUFLE: REQUIEM Für die Kompositionsweise des 1902 gebore nen Franzosen Maurice Durufle waren zwei Umstände wesentlich mit entscheidend: Wäh rend seiner Ausbildung am Pariser Konsis torium, wo er unter anderem Schüler vo.^fjI Dukas war, festigte sich sein Sinn für eine tra ditionsorientierte, transparente Klangsprache. Als international bedeutender Organist bil dete er seinen besonderen Nerv für Harmonik und Kontrapunktik. Der Reiz seiner Werke, unter denen Vokalwerke einen breiten Raum einnehmen, resultiert besonders aus der or gelgeschulten Harmonik und der Verwendung modaler Tonleitern, gewisse Parallelen lassen sich zum Stil Ollivier Messiaens ziehen. Duruf- les „Requiem“ entstand 1947, schnell wurde es das bekannteste Werk des Komponisten, nicht zuletzt durch den effektvoll ausgeführ ten kompositorischen Einfall, die Melodien 43