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2066 Note an den Päpstlichen Stuhl gerichtet habe, um die Zurückgabe deS in Bologna seinen Aeltcrn geraubten israelitischen Knaben zu erwirken. Der Gesandte in Rom, Herzog v. Gr'ammont, wurde schon auf die erste Nachricht von diesem empörenden Borfall angewiesen, seinen Einfluß auf- zubieten, um die päpstliche Regierung zur Freilassung deS jungen Mortara zu bewegen. ES ist nun hier eine Depesche des Gesandten eiugelaufen, in welcher derselbe über die verschiedenen vergeblichen Schritte berichtet, die er im Interesse dieser Angelegenheit gethan. >Er hatte sich, nachdem er bei der Regierung, d. h. beim Cardinal Antonelli, tauben Ohren gepredigt, per sönlich an den Papst gewendet. Pius IX. hat dann nach dem Bericht deö Herzogs v. Grammont erklärt, daß er die ganze Sache aufs tiefste bedauere und der unglücklichen Familie das aufrichtigste Mitleid zolle, daß er sich aber nicht über die Satzungen der Kirche stellen und in daö Kanonische Recht eingreifen könne. Uebrigens kündigt die Depesche des französischen Gesandten auch an, daß die päpstliche Negierung in den nächsten Tagen ein gehende Erklärungen in ihren« officiellen Organ abgeben und außerdem ein die Angelegenheit von allen Seiten beleuchteizdes Memorandum veröffent lichen werde. Klar ist nur so viel, daß der junge Mortara vorläufig in den Händen der «heiligen» Propaganda bleibt und alle Verwendungen ge scheitert sind." — An der Börse wollte man wissen, daß die Nachricht von der Ermor dung des französischen und englischen Consuls in Tetuan falsch sei. — Der Moniteur theilt mit, daß sechs Unterpräfecturen und fünf Civil- commissariake für Algerien gebildet worden sind. Großbritannien. London, 17. Oct. Ueber die Wendung in Preußen sagt die TimeS: „Es scheint kaum zu den Gefühlen zu stimmen, mit denen England dieses wackere und intelligente Volk, seinen Genossen in soviel Ruhm und Gefahr, betrachtet, wenn wir gestehen, die sanguinischen Ansichten, die sich in der preußischen Presse Luft gemacht haben, nicht ganz theilen zu können. Natürlich die Liberalen in Preußen haben unsere besten Wünsche. Für die reactionäre Camarilla, die einige Jahre lang die Geschicke Preußens irre führte, können wir keine Sympathie empfinden, und es soll uns freuen, wenn dort alles so sehr als möglich unserm englischen Muster angenähert wird, welches wir nun ein mal egoistisch genug sind für die Form zu halten, in der bei dem heutigen Stande menschlichen Fortschritts und Wissens die Freiheit sich am besten ge nießen und behaupten läßt; allein wir haben Grund zu zweifeln, ob in Preußen auch alles reif dafür ist. Es ist erstens kein sehr ermuthigendcs Zeichen, daß in einem Lande, daS vor 45 Jahren seine Unabhängigkeit ge gen einen fremden Dränger mit dem Schwert in der Hand verfocht und vor zehn Jahren den Krampfanfall einer furchtbaren Umwälzung durchge- macht hat, alles so ausschließlich vom Eharaktcr eines einzigen MauneS ab hängt. Die wahre Freiheit ist kein Ding, welches Souveräne nach Belieben schenken oder versagen können. Nach der continentalen Anschauung hängt die Freiheit in Preußen ganz und gar vom persönlichen Charakter des Prin zen ab. Der vorige Herrscher gewährte sie nicht; man hofft nun, der jetzige werde sie gewähren, und von demselben Gesichtspunkte aus kann man fürch ten, daß ein künftiger Fürst sie wieder wegnehmen wird. Das Volk, die Nation sind in diesem Raisonnement Null. Das Volk ist der unthätige Em pfänger des königlichen Gnadengeschenks — frei, wenn es der Majestät be liebt, ihm die Freiheit zu gönnen; unfrei, wenn sie für gut findet, das Geschenk zurückzunehmen. Eine solche Freiheit ist aber gar keine Freiheit. Wo sic wirklich lebt und besteht, da ist sie eine Angewöhnung und Uebung, da liegt sie in der Thatkraft, in der Willensmacht und Einigkeit- des Volks. Woran man die Fähigkeit einer Nation, die Freiheit wirklich zu genießen, erkennt, daS ist die Kraft; mit der es sie festhält. Wer einen rechten und weisen Gebrauch von ihr macht, hat am meisten Aussicht, sie lange zu be haupten. Man darf aber nicht vergessen, daß dem preußischen Volke zwei mal — zuerst am Schlüsse der Freiheitskriege und dann während der Re volution von 1848 — der Besitz verfassungsmäßiger Freiheit verhei ßen wurde und daß es beide male sich außer Stande gezeigt hat, die Gabe sich zu erhalten (to rotain Urs Koon). Hoffen wir auf bessern Er folg zum dritten male, aber mäßigen wir uns auch in unsern Erwartun gen und berücksichtigen wir die gesellschaftlichen Zustände und die Regie- rungSsorm, aus denen man uns zumuthet, das Emporwachsen einer verfas sungsmäßigen Freiheit zu erwarten. In den StaatSeinrichtungen Preußens suchen wir vergebens jenes entwickelnde Element, das den Menschen den rechten Sinn für die Freiheit und die rechte Festigkeit im Streben danach gibt. Alles kommt von oben und nichts von unten. Die ganze Nation ist durch die Retorte militärischer Subordination gegangen, die Hand der Re gierung macht sich in allem fühlbar; alles ist auf «'ne Formel, Regel oder Verordnung zurückgeführt; die Menschen sind ebenso viele Schachsteine, die man auf dem großen Brete, «Vaterland» geheißen, hin- und herrückt. Der Volksunterricht ist ein allgemeiner, das ist wahr, das ganze Volk geht in die Schule; aber sein Unterricht wird ebenso sehr nach der Schnur abge messen wie der Schnitt des Soldatenrockö und die Form der Muskete. Man lehrt die Leute lesen und schreiben, weil sie unter lauter Pässen, Zeugnis sen und Formalitäten aller Art zu leben haben, die sic verstehen müssen, um durchzukommen. Kein Land ist so ganz der Bureaukratie anheimgefal len wie Preußen. Das hat eine wahre Leidenschaft fürs Rcguliren und verbringt sein Leben damit, sich nach kleinlichen Regeln zu richten, die von andern vorgeschrieben sind, anstatt der Stimme deS eigenen Willens und der eigenen Vernunft zu folgen. In der That, Preußen wurde bisher zu viel gedrillt, zu viel gcschulmeistert, zu viel unterrichtet, zu viel regiert, und man muß cS unS verzeihen, wenn wir in diesen unbczwciselten Thatsachen sehr furchtbare Hindernisse jenes goldenen Zeitalters erblicken, an dessen un mittelbar bevorstehenden Anbruch man unS mit Gewalt glauben machen will. So stark ist die Bureaukratie, daß sie sich einer bedeutenden Anzahl Kam merfitze bemächtigt hat, und die Nation hat sich wirklich in großem Um fange durch ihre eigenen besoldeten Diener vertreten lassen. Dies sind die Schwierigkeiten, mit denen der Regent zu schaffen hat, und eS ist recht und billig, daß man sie würdigen lernt, um keinen-übertriebenen Erwartungen sich hinzugcben und seinen Bestrebungen nicht Unrecht zu thun. DaS Vor handensein einer Camarilla, an deren Spitze Hr. v. Gerlach steht, ist nicht die Ursache, sondern ein Symptom deS Leidens, an welchem di; preußische Gesellschaft krankt, und die Liberalen iverden die Negierung noch so ziem lich im Geiste ihrer Vorgänger führen müssen, wofern sie nicht die Sache an der Wurzel fassen und überhaupt die Idee aufgeben wollen, das Volk zur Erfüllung seiner moralischen, geselligen und Politischen Pflichten einzu- erercircn. Wir bringen diese Dinge zur Sprache, nicht weil wir feindlich gestimmt sind, sondern weil wir dem Prinzen von Preußen den besten Er folg in der Erfüllung seiner Aufgabe wünschen und das englische Publikum vor überspannten Erwartungen, auf die eine ebenso unvernünftige Verklei nerung folgen würde, warnen möchten. Wir haben uns auf die heimische Politik Preußens beschränkt. Was das Auswärtige betrifft, so erwarten wir mit Recht viel mehr, und haben wir allen Grund zu hoffen, daß Preußen fortan sein Gewicht in die Wagschale der Civilisation gegen die Barbarei werfen und daß seine Politik sich mit etwas Besserm befassen wird als je nen endlosen Zänkereien, die der Skandal, das Tagewerk und Privatvergnü gen der deutschen Diplomatie zweiten Ranges sind." Bei einem Meeting in Weymouth (Dorsetshire) an der Südküste von England suchte Oberst Freestun, Parlamentsmitglied für Weymouth, seinen Wählern einen richtigen und tröstliche» Begriff von der Bedeutung deS ge genüberliegenden französischen Kriegshafcns Cherbourg beizubringen. „Cherbourg", sagte er, „ist ein sehr großer Platz. Arsenale, großartig: Damm, prachtvoll; aber am Ende ist es kein Zufluchtshafen. Ein Schiff kann wol hineinfahren, aber nicht ohne Gefahr, denn Vie Küste ist so ge fährlich, daß es zehnmal stranden kann, ehe es hinter den Damm gelangt, zumal wenn der Wind von Osten bläst. Man hat behauptet, Frankreich könne vermittelst dieses Hafens England bedrohen. Ich dachte nie, daß die französische Negierung dergleichen im Schilde führt. Im Gegentheil, ich glaube, der Kaiser ist unS sehr freundlich gesinnt. Er mag dort eine Flotte sammeln, aber unsere Kriegsflotte nimmt eS mit jeder andern auf. Hrn. Roebuck und Hrn. Lindsey ist es gar nicht eingefallen, aber mir fiel es sehr lebhaft ein, daß der Kaiser an Cherbourg ein Plätzchen hat, wohin er sich beim etwaigen Ausbruch einer kleinen Revolution hübsch zurückziehen kann. (Gelächter.) Ich als Militär muß sagen, daß mich eins sehr stark frappirt hat, und dies ist, daß alle Befestigungswerkc Cherbourgs auf der Landseite gerade so stark sind wie auf der Seeseite. (Hört, Hört!) Der Kaiser, unser trefflicher Alliirter, hat 150000 Mann in einer einzigen Ar- mccdiviston. Wenn er sich mit diesem Heere hinter den Wällen Cherbourgs bequem verschanzt, so kann er in aller Gemächlichkeit warten, bis der Sturm sich verzogen hat und dann hervortretcn und sagen: «Da bin ich wieder, fir und fertig, die Sorgen der Regierung zu übernehmen.»" London^ 17. Oct. Im Lager unserer Palmcrstonianer herrscht ein ge waltiger Alarm über das Compromiß der Tories und Old Whigs, das heute und morgen zwischen dem Premier Englands und Lord John Russell abgeschlossen wird. Der letztere ist nämlich, wie schon mehrere Tage vorher verlautete, nach dem Landsitze Lord Derby's (Knowsley) eingeladen worden, und obwol die Organe des Erministcriums betheuertcn, daß Lord John Russell weder cingeladen worden, noch eine solche Einladung angenommen hätte, so ist ihre Uebcrraschung" um so größer gewesen, als sie die Anzeige im officiösen Herald lasen, daß Lord John Russell und seine Gemahlin am Sitze des Premierministers eintreffen würden. Das ist nun geschehen, und in den Westendclubs beschäftigt man sich lebhaft mit der Frage, waS die beiden Staatsmänner vereinbaren würden. Wenige Zweifel herrschen darü ber, daß cs der Reformbill Lord John Russell's gelte, welche er als soge genannte „unabhängige" Maßregel vor daS Unterhaus bringen wird. .Die Freunde Lord John Russell's demcntircn das Gerücht, dem zufolge Hr. D'Jsraeli in Conflict mit dem Premier gerathen, weil dieser den von Lord Stanley proponirten Compromiß mit Lord John Russell acceptirte. Wohl habe Hr. D'Jsraeli gegen den Wunsch Lord Stanley'ö protestirt, den Old Whigs einige Sitze im Cabinet anzutragen und einc förmliche Coalition zu schließen; aber dieser Protest hatte nichts mit einem „Conflict" deS sicht baren und unsichtbaren Hauptes der Toryregierung zu thun. Hr. D'Jsraeli erschien nicht in Aylesbury,- weil Lord John Russell zuerst in Knowsley erscheinen und weil Hr. Bright früher in Manchester zum „Pronuncia- mento" schreiten sollte. Die Rede Bright's soll nämlich den Grundton für die liberale oder besser gesagt für die radicale Partei abgebcn, deren Unter stützung im Parlament sich das Ministerium sichern will. Rußland. * Von der polnischen Srcnze, 16. Oct. Im benachbarten Königreich Polen, wo sonst über Mangel an religiöser Toleranz jetzt nicht geklagt wer den kann, wird alles, was irgendwie auf jesuitischen Einfluß hindeu tet, aufS strengste verfolgt und selbst die Vereine gegen den Branntwein genuß sind sämmtlich verpönt worden. — Die Demonstrationen zu Gunsten des Prinzen Napoleon in Warschau haben bekanntlich polizeiliche Maß nahmen zur Folge gehabt, die jedoch angeblich zu dem Resultat geführt ha-