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15. Juli 1902. Berichte über Versammlungen aus Fachvereinen. Stahl und Eisen. 793 schaftliche Leben beherrschte, da mag es möglich gewesen sein, dafs die persönliche Fürsorge des Arbeit gebers ausreichend erschien; aber in einer Zeit, in welcher dank der modernen Wohlfahrtspflege die Be völkerung rapide gewachsen ist, wo der fabrikmäfsige Massenbetrieb sich immer mehr entwickelt hat, und dank unserer ausgezeichneten Verkehrsmittel das Gesetz der allgemeinen Freizügigkeit zum Durchbruch ge kommen ist, in dieser Zeit reicht die persönliche Fürsorge nicht mehr aus. So ist die socialpolitische Gesetzgebung entstanden. Sie alle werden aus Er fahrung wissen, dafs der praktische Socialpolitiker starke Nerven und ein starkes Herz haben mufs, wenn er nicht Gefahr laufen will, zermalmt zu werden von socialpolitischer Kurzsichtigkeit, wirthschaftlicher Un besonnenheit und Begehrlichkeit. Man spricht von einer socialen Frage. Gewifs, es giebt eine sociale Frage, aber es ist eine ewige Frage. — Ich sehe die Schwerkraft dieser Versammlung weniger in den gewifs schätzenswerthen Berathungen als in dem sichtbaren Ausdrucke einer gemeinsamen internationalen social politischen Ueberzeugung. Mögen die Verhandlungen dazu beitragen, den socialpolitischen Gedanken seinem Ziele näher zu bringen. Den Worten des Handelsministers Möller ent nehmen wir: Viele unter Ihnen sind keine Fremde für mich, denn ich bin seit langen Jahren Mitglied Ihrer Vereinigung gewesen. Nur beim letzten Congrefs in Paris war es mir nicht vergönnt, mit anwesend zu sein. Es ist mir darum um so mehr ein Vergnügen, Sie im Namen der preufsischen Staatsregierung willkommen zu heifsen. Graf l’osadowsky hat die Ziele vorge zeichnet, welche die deutsche Reichsregierung in Bezug auf die Socialpolitik seit mehr als 20 Jahren ange nommen hat. Inzwischen sind auch mehrere Länder dem Beispiele Deutschlands gefolgt. Oesterreich hat uns sogar in der Beziehung übertroffen, dafs es in Bezug auf Unfall die Kapitaldeckung im Princip vorgeschrieben hat. Wir haben uns in dieser Beziehung in den letzten Jahren der österreichischen Auffassung genähert. Die grofse Frage, die die meisten anderen Nationen von uns trennt, ist die Frage der staatlichen Versicherung oder der Versicherungszwang. Man hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dafs die Versicherungsgesetz gebung nur dazu führe, die Ansprüche der Arbeiter zu steigern und vor allen Dingen auch die Zahl der Unfälle zu vergröfsern. Redner giebt zu, dafs die Zahl der Unfälle zwar gröfser, die der schweren und tödlichen Unfälle aber kleiner geworden ist. Das Wort des Kaisers, dafs alle billigen Forde rungen der Arbeiter erfüllt werden müfsten, ist bei uns zu einem erheblichen Theil erreicht worden. Wir können uns mit ruhigem Gewissen der Arbeiterbewegung gegenüberstellen und dies ist sehr viel werth bei einer ruhigen und kühlen Behandlung der socialen Frage. Ich habe die feste Ueberzeugung, dafs, wenn wir uns auf dem eingeschlagenen Wege weiter bewegen, wir das gesteckte Ziel im ganzen Umfange erreichen werden. Im Namen der Congrefsstadt Düsseldorf begrüfst Oberbürgermeister Marx die Versammlung in herz lichen Worten, in denen er auf die Freiheit in der Entwicklung der deutschen Städte hinweist, bei denen nicht an letzter Stelle das Bewufstsein der socialen Pflichten stehe, welches so mächtig sei, dafs im deut schen Bürgerthum kaum Jemand an der Nothwendig keit der Durchführung gewisser socialpolitischer Aufgaben auf dem Wege staatlichen Zwanges zweifle. Weitere Begrüfsungsreden hielten namens ihrer Regierungen Cheysson -Frankreich, Freiherr von W i n k 1 er - Oesterreich, Ministerialdirector Dr. Ma- galdi-Italien, Graf S karzy nsky - Rufsland. Nach der Rede von Winklers verliest Präsident Boedik er ein Telegramm des Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lu eger, der den Congrefs für das nächste Jahr in die österreichische Reichshauptstadt einladet. Landeshauptmann Klein heifst die Versammlung namens der Landesverwaltung der Rheinprovinz will kommen und verweist dabei auf die Erfolge der Landes versicherungsanstalt Rheinprovinz. Reichstagsabgeordneter Dr. Beumer begrüfst in Stellvertretung des verhinderten Commerzienraths Servaes den Congrefs namens der im „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen“ organisirten rheinisch westfälischen Industrie, die sich bereits im Jahre 1873 mit der Frage der Abänderung des Haftpflichtgesetzes beschäftigt und dann durch einen ihrer Vertreter, den verstorbenen Geheimen Commerzienrath Baare, 1880 den Anstofs zu einer staatlichen Unfallversicherung gegeben habe. Die denkwürdige Unterredung, welche Baare in dem genannten Jahre mit dem Fürsten Bis mark gehabt, bezeichne den ersten Markstein in der socialpolitischen Gesetzgebung Deutschlands, der dann die Industrie nicht allein mit sachverständigem Rath, sondern vor allem mit der That, stets fördernd zur Seite gestanden habe. Mit dem Wunsche, dafs die anderen Nationen unserem Beispiele folgen und dafs dazu die Düsseldorfer Congrefstage insbesondere bei tragen möchten, ruft Redner dem Congrefs ein herz liches Glückauf zu. Präsident Boediker dankt den Vorrednern für ihre freundlichen Worte. Es folgt alsdann die Ernennung der Vorsitzenden und deren Stellvertreter für jede Sitzung unter Be rücksichtigung der Länder, aus denen Mitglieder am Congresse theilnehmen. Zum Ehrenpräsidenten wird der ehemalige italienische Justizminister Chimirri gewählt. Auf Vorschlag Chimirris wird ein Begrüfsungs- telegramm an den Reichskanzler Graf Bülow ab gesandt. An die Eröffnungs-Versammlung schliefst sich so fort die erste geschäftliche Sitzung. Regierungsrath Dr. Kaan-Wien berichtet über die Weiterentwicklung der Arbeiterversicherung in Oesterreich, Signor Maga Idi über die Fortschritte der Unfallgesetzgebung in Italien, Staatsrath Neu mann über die Arbeitergesetzgebung in Luxemburg, Dr. Zacher über die verschiedenen Systeme der Arbeiterversicherung in den europäischen Staaten. Von den an den folgenden Tagen gehaltenen Reden machen wir besonders auf die von Excellenz Dr. Boediker über „Die wirthschaftliche und politische Bedeutung der deutschen Arbeiterversicherung“ aufmerksam. — In der Schlufssitzung am 24. Juni wurde beschlossen, eine internationale Arbeiterversicherungs-Statistik heraus zugeben und den nächsten Congrefs im Jahre 1905 in Wien abzuhalten. Am 19. Juni Morgens fuhren die Theilnehmer des Internationalen Wohnungs-Congresses und des Arbeiterversicherungs-Congresses mittels Sonderzuges nach Essen zur Besichtigung der Kruppschen Wohl- fahrtseinrichtungen. An der Fahrt betheiligten sich 500 Personen. Nach Ankunft am Bahnhof West wurden besichtigt: Die Colonie Alfredshof (Consum- anstalt), Logirhäuser für unverheirathete Facharbeiter, Colonie Friedrichshof, Colonie Altenhof, Erholungs baus, Pfründhäuser, Kapellen und Colonie Cronen berg. In der Kruppschen Bierhalle wurde den Gästen ein Imbifs dargereicht. Allenthalben, ganz besonders aber bei den Ausländern, hinterliefs das Gesehene den gewaltigsten Eindruck, dem man unverhohlen Aus druck verlieh. Gegen Ende des Frühstücks begrüfste Landrath Rötger namens der Firma Krupp die Ver sammlung und dankte für das grofse Interesse, das der Congrefs für die Kruppschen Einrichtungen an den Tag gelegt habe. Sein Hoch galt den Gästen. Hierauf ergriff unter lebhaften Beifallskundgebungen Dr. Boediker das Wort, um der Firma Krupp herz lich zu danken. Schon der Vater und Grofsvater des