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Industrie und Handelsverträge. 358 Stahl und Eisen. 25. Jahrg. Nr. 6. Wünsche in gehöriger Weise und mit der nötigen Energie bei den verbündeten Regierungen zu Gehör gebracht werden. Aber auch abgesehen von dieser Aufgabe der Schaffung neuer Handelstarif verträge ist der Industrie für die nächste Zu kunft noch eine große handelspolitische Aufgabe zugewiesen. Es handelt sich dabei zunächst um die Erneuerung einiger Verträge mit denjenigen Ländern, mit denen Deutschland gegenwärtig im Meistbegünstigungsverhältnis steht. Man weiß noch nicht genau, welche Absichten die Regierung auf diesem Gebiete verfolgt, kann aber nach äußeren Anzeichen, namentlich nach Vor gängen in der Reichstagskommission, die die Handelsverträge vorberaten hat, annehmen, daß einzelne der bisherigen Meistbegünstigungsverträge tatsächlich einer Änderung unterzogen werden sollen. Wenn dabei die industriellen Verhältnisse eine Förderung erfahren würden, so würde man damit nur einverstanden sein können, jedoch nur unter dieser Voraussetzung. Denn wenn etwa Kündigungen in der Absicht erfolgen sollten, lediglich weitere Berücksichtigungen landwirtschaft licher Interessen eintreten zu lassen, so könnte die Gefahr entstehen, daß Verträge mit diesen Staaten künftighin überhaupt nicht zustande kommen, und dann wäre die Industrie erst recht geschädigt. Zu denjenigen Auslandsstaaten, die mit Deutschland in ganz besonderen handels politischen Beziehungen stehen, gehören England und Nordamerika, zwei Staaten, mit denen der Verkehr Deutschlands ein außerordentlich wichtiger ist. Was zunächst England angeht, so hatte Deutschland früher mit ihm einen Meist begünstigungsvertrag. Er existiert nicht mehr. In den letzten Jahren wurden die handelspolitischen Verhältnisse zu England stets so geregelt, daß dem Bundesrat für ein oder zwei Jahre die Voll macht erteilt wurde, die Tarifvertragssätze auf englische Provenienzen zur Anwendung zu bringen. England behandelte dafür die deutschen Waren nicht schlechter als die anderer Länder. Es ist ja bekannt, daß die Handelsbeziehungen zu ver schiedenen englischen Kolonien Störungen erfahren haben. Es ist ferner bekannt, daß in England eine Strömung aufgetreten ist, welche einer Schutz zollpolitik nahe verwandt ist. Ob diese Strömung sich tatsächlich zur Geltung wird durchsetzen können, ist vorläufig nicht abzusehen. Nun läuft das Provisorium mit England Ende 1905 ab. Ob es möglich sein wird, in dieser Zeit zu einem Abkommen mit England, zu gelangen, das auf eine längere Zeit abgeschlossen werden könnte, muß abgewartet werden. Zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika liegen die Verhältnisse nun noch verzwickter als bei England. Bekanntlich hatten einzelne deutsche Staaten mit der nordamerikanischen Union einen Meistbegünstigungsvertrag in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts abgeschlossen. Auf Grund dieses Vertrages liefen dann lange Zeit die handelspolitischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, bis Nordamerika zu der Anschauung gelangte, daß die Meistbegünstigung nur gegen besondere Konzessionen zu gewähren sei. Damit war das Prinzip des Reziprozitätsvertrages ge schaffen, und da Deutschland naturgemäß die Meistbegünstigungsklausel nicht anders Nordamerika gegenüber auslegen konnte, als dieses ihm selbst gegenüber, so kam das Abkommen vom Jahre 1900 zustande, das einer Erneuerung bedarf, bevor die neue handels- und zollpolitische Ära Deutschlands beginnt. Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Nordamerika sind be kanntlich außerordentlich günstig. Man hat infolge dessen auch an den verschiedensten Stellen die Hoffnung gehegt, daß es zwischen beiden Staaten zum Abschluß eines Tarifvertrages kommen würde. Ob diese Hoffnung sich erfüllen wird, steht noch dahin. Jedenfalls wird die Industrie alle Ver anlassung haben, beizeiten die Augen aufzutun und darauf zu sehen, daß sie, wenn Abmachungen mit der nordamerikanischen Union getroffen wer den, nicht etwa wie bisher hinter der Landwirt schaft zurückstehen muß. Des weiteren wird die Industrie zusehen müssen, auf anderen Gebieten Kompensationen für die Schädigungen zu erhalten, die sie auf handels politischem Gebiete erfahren hat. Hier kommt namentlich das weite Gebiet der Eisenbahn- und Wasserfrachtsätze in Betracht. Es ist ja bekannt, daß die Industrie schon seit Jahren nach einer planmäßigen Herabsetzung der Güter tarife verlangt hat, leider bisher immer ohne Er folg. Sollte diese durchgreifende Reform für die nächste Zukunft nicht zu erlangen sein, so müßten doch mindestens allen den Industriezweigen, die nachweisen können, daß sie durch die neue Handelspolitik geschädigt sind, Frachtermäßigungen auf den Eisenbahnen für ihre Rohmaterialien oder ihre Fabrikate gewährt werden. Die Wasser frachtsätze werden nach der gleichen Richtung einer Revision unterzogen werden müssen, nament lich aber wird darauf zu sehen sein, daß nicht etwa die Fracht auf den Wasserstraßen, wie dies in der Absicht zu liegen scheint, für die Industrie gar noch verteuert wird. Schließlich wird aber die Industrie selbst zu sehen müssen, daß der Grund, weswegen ihr solche Nachteile wie in den neuen Handelsver trägen und in dem autonomen Zolltarif zugefügt werden konnten, beseitigt wird. Dieser Grund liegt einzig und allein darin, daß die Industrie im Reichstage nicht die Vertretung hat, die ihr ihrer ganzen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung nach zukommt. Bei der Regelung des Wahlrechts im Reiche ist ja ein Verhältnis in der Volksvertretung, bei dein die Industrie ihrer Bedeutung gemäß nicht be teiligt ist, möglich; aber recht große Teile der