Volltext Seite (XML)
29. Juli 1908. Materialeigenschaften im Zerreiß-, Kerbreiß- u. Kerbschlagversuch. Stahl und Eisen. 1083 Wenn wir also annehmen, daß die Gleitvor gänge sich zwischen E- und S-Grenze auf den ganzen Stab erstrecken, so kann damit nur ge sagt sein, daß ihre räumliche „Verteilung“ eine gleichmäßige ist. Da nun anderseits das Fortschreiten, die Fortpflanzung an sich bedingt, daß der Vorgang wandert, indem er von Ort zu Ort fortschreitet, so schließt dies klar in sich, daß er nicht an allen Orten gleichzeitig währen kann. Daher müssen wir auch logisch folgern, daß ein stetiger Wechsel zwischen Gleiten und elastischer An spannung vor sich geht. Von besonderem Inter esse für die Erkenntnis der Gleitvorgänge ist die Art, in welcher die S-Grenze in Erscheinung tritt. .In Abbild. 1 und 4 (Schaulinien a, b, c, d, e) sind typische Formen skizziert. In Abbild. 1 ist eine obere und untere Streckgrenze S o , Su vor ¬ handen, in Abbildung 4 (Schaulinie a) die ein fache Stufe, in Abbildung 4 (Schaulinie b, c, d, e) der verschieden scharf ausgeprägte, allmähliche üebergang der Gleitvorgänge. Die praktische Beobachtung ergibt, daß die scharfe Trennung der Fließvorgänge, wie in Abbildung 1, ebensowohl durch die Bearbeitung * als durch Härtung bezw. Anlassen in tief ge legenen Temperaturstufen hintangehalten, daß sie aber durch das Glühen in höheren Temperaturen wieder herbeigeführt wird. Die ersterwähnten Einwirkungen zielen auf eine Verkleinerung des Kristallkorns, das Glühen positiv auf eine Vergrößerung ab. Daher müssen die Erscheinungen an der S-Grenze dazu in Beziehungen stehen. Wenn man die Ergebnisse der vielseitigen Untersuchungen Heyns** über dieFließvorgänge in die Praxis überträgt, so findet sich nur eine Ursache hierfür, und zwar das Gleiten nach Gleit flächen. Wenn wir nun die Begrenzungsflächen * Jüptner: „Siderologie" S. 206. ** Jüptner: „Siderologie“ S. 374. kristallinischer Natur auch als solche einer ver minderten Kohäsion betrachten (ausgeschlossen muß die Minderung durch einen Spannungszustand sein), so müssen diese Flächen vorerst auch als Gleitflächen betrachtet werden, da nach ihrem Verlauf der geringste Gleitwiderstand vorhanden ist, und es kann die Translation nach Kristall spaltflächen * durch die Kristallmasse erst in zweite Linie rücken. Mit Recht darf daher angenommen werden, daß an der E-Grenze die Gleitvorgänge vorerst nach jenen kristallinischen Begrenzungsflächen einsetzen werden, nach deren Verlauf der geringste Gleitwiderstand vorhanden ist, und daß sie nach und nach mit wachsender Erschöpfung der Gleitwege auf jene des größeren Gleitwiderstandes übergehen. Dies muß eine Grenze haben, und sie findet in der S-Grenze überhaupt, an der oberen S-Grenze aber besonders scharfen Ausdruck.** Die S-Grenze erscheint dann als jene Festigkeitsgrenze, bei wel cher das Gleiten in der Translation nach Kristall spaltflächen, also durch die Masse der Kristall körper, einsetzt. Wenn die kristallinischen Be grenzungsflächen kleiner sind als die Kristall spaltflächen, so ergibt sich ohne weiteres, daß die plötzlich einsetzende Translation im Zerreiß vorgang selbst um so mehr zu prägnantem Aus drucke kommen muß, als die Summe der Gleit wege zwischen den Berührungspunkten zweier Körper sich wie die Berührungsflächen zuein ander verhalten. Es erwachsen dann plötzlich größere Gleitwege und damit der Spannungs abfall zwischen So und S u (Abbild. 1). Ist der Abfall So - Su nicht vorhanden, so gesellen sich an der Streckgrenze beide Vor gänge zusammen, wobei „nach und nach“ jener in der Translation zu überwiegen beginnt. Das Maß dieses Ueberwiegens ist an verschiedenen Stahl- und Eisensorten verschieden und sicher nicht vorhanden, wenn B- und Z-Grenze Zu sammenfällen, eine Einschnürung und Trichter bildung fehlt. Die Beobachtungstatsachen der Praxis stehen mit dieser Anschauung durchaus in gutem Ein klänge und ergibt sich daraus ganz ungezwungen, daß an allen Orten, an welchen die Gleitvor gänge haften, nicht auch gleichzeitig elastische Spannungen vorhanden sein können. Hört an diesen Orten der Gleitvorgang auf, so muß die elastische Spannung mit dem der betreffenden Last entsprechenden Maß einsetzen. Da das Gleiten nur so lange währen kann, bis ein neuer Gleitwiderstand erwächst, wenn es nicht -zur Trennung führen soll, so muß in Su auch das Gleiten nach den zwischen So und Su vorhan denen Gleitflächen aufhören und infolge des ent- * Jüptner: „Siderologie“ S. 379. ** Vergl. Bach: »Zum Begriff Streckgrenze«; „Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure“, 1904 9. Juli, 8. 1040.