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ruhiger Bewegung. Hier gibt es keine kontrastierenden Themen. Haupt- und Seitenthema ergänzen einander. Ein lyrischer, schwermütiger Charakter sowie die Gemeinsamkeit der rhythmischen Bewegung verbindet sie. Adel und Herzens wärme atmet das Hauptthema. Edlen, liedhaften Charakter hat die Melodie des Seitenthemas. Der von dramatischer Spannung erfüllte Satz verläuft allmählich abgeklärter, ruhiger. Innerhalb des Konzerts erscheint er wie ein selbständiger Prolog. Der zweite Satz (Allegro) hat den Charakter eines Scherzos. Die heftige, drän gende Dynamik, die komplizierte polyphone Anlage (eine Fuge im Mittelpunkt der Durchführung), die farbenprächtige Instrumentierung - das alles ist sehr eindrucksvoll. Die Musik ist stürmisch, ungestüm, sie hat etwas Dämonisches. Das polyphone Gewebe ist mit großartigem Können geflochten, zugleich subtil in der Instrumentierung. Die mittlere Episode des Scherzos ist ein grotesk anmutender Tanz volkstümlichen Gepräges, von eigentümlichem Humor und feiner Ironie. Der dritte Satz ist eine Passacaglia (Andante) voller Adel, Schönheit und Ge- fühlswärme. Aus ihrem majestätischen Schreiten spricht aber auch Leid und Nach denklichkeit. Das ausdrucksstarke Thema der Passacaglia wird zu Anfang von Streichern, Pauken und Horn ausgeführt. Die bedeutsamen Pausen geben seinem stolzen und gebieterischen Charakter ausgeprägte Konturen. In der weiteren Ent wicklung schichten sich immer mehr und mehr Stimmen über diesem Thema auf, und jede von ihnen ist von melodischer Bedeutung. Nach einem von Dramatik und intensiver Pathetik erfüllten Höhepunkt beginnt die Kadenz, die einen fast selbständigen Satz darstellt, so bedeutend ist ihr Gehalt und so entwickelt ihre Form. Hier leben Nachklänge der Stimmungen und Bilder von Adagio, Scherzo und Passacaglia wieder auf. Eine ungeheure Woge dynamischer Steigerung führt die Kadenz unmittelbar ins Finale über, vom Komponisten .Burleske' genannt (Allegro con brio). Die Fest lichkeit und ungezwungene Fröhlichkeit dieser Musik bilden einen scharfen Kon trast zu den ersten drei Sätzen. In diesem Schlußsatz von betont nationaler Klangfarbe erlebt man Bilder eines fröhlichen Volksfestes. Zuweilen ist das Spiel von Skomorochen (Wandermusikanten) zu hören. Die Themen sind in der Intona tion mit denen der vorhergehenden Sätze verwandt. Das Hauptthema hat tänze rischen Charakter. Es wird in der Solovioline und im Orchester breit entwickelt und dann von einer tänzerischen Episode abgelöst, die auf ein russisches Lied zurückgeht. Sodann erklingt eine Weise, aus der man das fröhliche Spielen der Wandermusikanten heraushört. Auf dem Höhepunkt der Fröhlichkeit erhebt sich das stolze Thema der Passacaglia. Aber jetzt ist seine Bedeutung eine völlig an dere: es ruft alle herbei zum frohbewegten Volksfest, mit dessen Bild das Werk schließt." Eine eigenartige Stellung in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nimmt Jean Sibelius, der Begründer der national-finnischen Kunstmusik, ein. Der 1865 in Hämeenlinna (Tavestehus, Finnland) Geborene sollte eigentlich Jurist werden, studierte jedoch Musik bei M. Wegelius in Helsinki, bei Albert A. Becker in Berlin und schließlich bei Karl Goldmark und Robert Fuchs in Wien. 1893 kehrte er wieder in die Heimat zurück, wirkte zunächst als Theorielehrer an Helsinkier Musikschulen, bis er sich, da er vom finnischen Staat ein Stipendium auf Lebenszeit erhielt, gänzlich seinem kompositorischen Schaffen widmen konnte. 37 Kilometer von Helsinki, in Järvenpää, ließ er sich 1904 in herrlichster Landschaft ein Haus bauen, in dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1957 lebte und arbeitete. Seit 1929 veröffentlichte Sibelius keine Werke mehr. Er schrieb fortan nur noch Musik, die niemand, nicht einmal seine Frau, hören durfte. An Stapeln von Notenblättern klebten Etiketten: „Nicht anrühren" oder „Erst nach meinem Tode zu öffnen". Aber der Nachlaß enthielt kaum Manuskripte. Der Komponist hatte offenbar alles kurz vor seinem Tode vernichtet. Er sagte einmal: „Diktatur und Krieg widern mich an. Der bloße Gedanke an Tyrannei und Unterdrückung, Sklavenlager und Menschenverfolgung, Zerstörung und Massenmord machen mich seelisch und physisch krank. Das ist einer der Gründe, warum ich in über zwanzig Jahren nichts geschaffen habe, was ich mit ruhigem Herzen der Öffentlichkeit hätte geben können. Ich habe manches geschrieben, aber etwas aufführen zu lassen, dazu fehlte mir . . . ja, das wollte ich eben nicht." Zum Bilde Sibelius' gehört es auch, daß er sich kurz vor und nach der Jahr hundertwende der national-finnischen Freiheitsbewegung gegen die Unter drückungsmaßnahmen der zaristischen Behörden anschloß. Seine berühmten Tondichtungen nach dem finnischen Nationalepos „Kalewala" oder die sinfo nische Dichtung „Finlandia" stehen in engem Zusammenhang mit diesen nationalen Bestrebungen. Zu Sibelius’ wichtigsten Werken rechnen neben zahl reichen Liedschöpfungen, Klavierstücken, Volksliederbearbeitungen, Chören und einer Oper ein Violinkonzert, die sinfonischen Dichtungen und vor allem sieben Sinfonien, die den Komponisten als größten finnischen Sinfoniker ausweisen. So sehr auch der Meister von der Mythologie und Natur seines Landes zum Schaffen angeregt wurde, Motive aus der Volksmusik verwendete er nirgends. Gleichwohl ist seine eigenständige, zwischen Spätromantik und neuen musika lischen Bestrebungen des 20. Jahrhunderts stehende Musik von ausgesprochen nationaler Haltung, in der Stimmung wie im Tonfall. „Die .Weise' seines Landes fließt ihm aus dem Herzen in die Feder", sagte Busoni, der zu den ersten ausländischen Vorkämpfern des großen Finnen gehörte. Die Eigenart seines elementaren, urgesunden Persönlichkeitsstils fand keine Nachfolge. Während sein Stil in den Jahren nach der Jahrhundertwende zu fast klassischer Klärung gelangte bei impressionistischem Einschlag, ist das Schaffen der neunziger Jahre, dem auch die 1898/99 entstandene 1. Sinfonie e-Moll o p. 3 9 entstammt, durch unmittelbaren Gefühlsreichtum, instrumentale Farben glut und blühende Melodik, durch ein höchst subjektives Sturm-und-Drang- Pathos charakterisiert. Orchestrale Kraft- und Mlassenwirkungen werden in reichem Maße genutzt. Die 1. Sinfonie stellt wie die meisten der Sibelius- Sinfonien eine ins Große geweitete sinfonische Fantasie dar (das Finale nennt der Komponist selbst „quasi una Fantasia"). Die rhapsodische Freizügigkeit in der Formbehandlung unterstreicht die subjektive Haltung dieser großartigen Stimmungs- und Ausdrucksmusik, die freilich, wie Sibelius einmal im Hinblick auf seine gesamte Sinfonik äußerte, „als musikalischer Ausdruck ohne jedwede literarische Grundlage erdacht und ausgearbeitet worden ist". Dennoch mag der Hörer beim Anhören des Werkes an einen anderen Ausspruch des Komponisten denken: „Die Wunder der Natur erhoben mir immer wieder das Herz", denn dieses außerordentliche Naturerlebnis, dessen er fähig war, spiegelt sich auch in seiner 1. Sinfonie wider, in der die ganze Schwermütigkeit, Herbheit finnischer Landschaft musikalischen Ausdruck fand. Eine melancholisch-einsame Weise der Soloklarinette, von dumpfem Pauken grollen unterstützt (Andante ma non troppo), leitet zum Allegro-Hauptteil des ersten Satzes hin, der mit plötzlichem Streichertremolo, energischen, rhythmisch kantigen Motiven eine dramatische Erregung herbeiführt, nach deren Höhepunkt