Volltext Seite (XML)
ZUR EINFÜHRUNG Die Schnellebigkeit, mit der sich gegenwärtig musikstilistische Entwicklungen ablösen, birgt in sich die Gefahr, angesichts ständig neuer Wandlungen die Breite und Vielfalt zeitgenössischen Schaffens zu übersehen. Dabei treten oft auch jene Werke aus dem Blickpunkt, die weniger formale Experimente ent halten, aber in ihrer Substanz von inhaltlicher Tiefe und großem kompositorischem Können geprägt sind. Mit dem Maße aber, wie moderne Techniken den Reiz des Neuen verlieren, wächst das Interesse an der Musik, die aus der Kontinuität zur Tradition Inhalt und Form in dialektischer Einheit weiterentwickelt hat. Zu diesen Werken zählt auch Jan Carlstedts 2. Sinfonie. Jan Axel Carlstedt gehört zur mittleren Generation der schwedischen Komponisten. 1926 in Orsa geboren, studierte er 1948-1952 bei Lars-Erik Larsson in Stockholm und erweiterte seine Kenntnisse durch mehrjährige Studienaufent halte in England und Italien. Als Leiter der Vereinigung Samtida Musik zur Auf führung Neuer Musik in Stockholm und als Präsidiumsmitglied des Nordischen Musikrates hat Carlstedt großen Anteil an der Förderung und Verbreitung der zeitgenössischen Musik Nordeuropas. Mit seinem eigenen Schaffen, darunter das Ballett „Singoalla", zwei Sinfonien, Kammermusik und Chorbearbeitungen heimatlicher Volksmusik, bekennt sich der Komponist zu den Musiktraditionen seines Landes ebenso wie zu den wichtigsten Anregern der jüngeren nordischen Musik: Sibelius und Schostakowitsch. Auf dieser Basis aufbauend, getragen von hohen inhaltlichen Anliegen seiner Kompositionen und fundiert durch genaues Wissen um moderne Satz- und Instrumentationstechniken gelingt es ihm, eine Tonsprache von starker persönlicher Ausstrahlung zu finden, die seinem Werk zu Achtung und Anerkennung über die Grenzen Schwedens hinaus verhalfen. Jan Carlstedts Sinfonie Nr. 2, eine „Sinfonie der Brüderlichkeit", geschrie ben im ehrenden Gedenken an Dr. Martin Luther King, erlebte ihre Urauffüh rung am 20. Dezember 1970 im Lincoln Center New York City. Am Schicksal dieses Farbigen, der den Traum der Menschheit von einer in innerem und äuße rem Frieden lebenden brüderlichen Gemeinschaft ständig mit der Realität seines Landes konfrontiert sah, sich zum Kämpfer gegen Klassen- und Rassenunter drückung entwickelte und deshalb von seinen Gegnern meuchlings ermordet wurde, entzündet sich der inhaltliche Ansatz des Werkes. Als ein von Entrüstung geprägtes Requiem enthalten die drei Sätze der Sinfonie die Gedankenkon stellation Trauerbotschaft — Befreiungskampf — Traumvision. Der erste Satz (der Anlage nach eine Sonatenform) verharrt zunächst in be drückender Stille. Liegende Sekundklänge weichen nur zögernd einer Kantilene, die sich nach dem Erklingen eines Hornthemas allmählich in den Streichern ent wickelt und den Satz zum tragischen Höhepunkt führt, bis er schließlich in die meditative, resignierende Haltung des Anfangs zurückfällt. Als eine Art symphonischen Dies Irae, aber mehr in Form eines inneren Auf ruhrs als einer dramatischen Aktion, gipfelt der scherzoartige zweite Satz (Allegro) in zwei Kulminationen, die charakteristisch abgestuft sind durch ein Hauptthema im 6 / 8 -Takt und einer Triogestalt in 5 /s'Version. Zwischen verhaltener Unruhe, Groteske, Dämonie und Aggressivität wechseln hier die Stimmungen. Dieses „erzwungene" Scherzo endet nach einem letzten verzweifelten Ausbruch in einer Erschöpfung, die in den abschließenden dritten Satz fließend hinüber leitet. Das Finale (Adagio) ähnelt dem ersten Satz in der äußeren Anlage — meditativ beginnend, zu einem Höhepunkt zustrebend und danach wieder sich zentrifugal zerstreuend. Nur finden hier die Auseinandersetzungen der thematischen Ent wicklungen ihren Abschluß: die konfliktgeladenen Themen werden verdrängt durch einen friedvollen Gesang, der, angestimmt vom Englisch-Horn, von ver schiedenen Orchestergruppen immer wieder aufgegriffen wird und gegen Ende des Werkes bis zur Dichte einer Passacaglia zusammenschmilzt. Dieses lyrische Element wird durch ein mehr pathetisches unterstützt (die dem Rasliw-Thema der 12. Sinfonie Schostakowitschs verwandte Passage tritt zuerst im Horn auf). Die Kulmination bringt über die Anklage des ersten Satzes hinaus Entrüstung und kämpferische Aktivität zum Ausdruck. Wenn am Schluß des Stückes das thematische Material wieder in seine motivischen Keime zerfällt und die Kom position verhalten schließt, wird evident, daß der Sieg dieses Kampfes letztlich noch aussteht. Der Schlußakkord jedoch unterstreicht die Vision zuversichtlich. Das thematische Anliegen und der zielstrebige dramaturgische Aufbau könnte die Vermutung nahelegen, es handele sich um eine Programmsinfonie. Carlstedt jedoch meidet jeden plakativen Effekt. Er gestaltet die Konflikte ausschließlich nach Prinzipien strenger sinfonischer Logik. Auffällig ist (und damit setzt er auf eigene Weise Sibelius und Schostakowitsch fort), mit welch geringem Aufwand an thematischem Material er die große Form entwickelt. Zu dieser Beschränkung auf wenige, teilweise sich durch die ganze Sinfonie hinziehende und dadurch besonders symbolkräftige Themen gesellt sich eine ökonomische Disposition des Tonraums. So beruhen z. B. die Themen der ersten beiden Sätze auf der Ausnützung eines umspielten Zentraltones bzw. der horizontalen und vertikalen Verwertung von Sekundintervallen oder Sekundgängen. Im dritten Satz schafft Carlstedt mit schlichten Mitteln größte Wirkung: die beiden Hauptthemen sind Dreiklangsbrechungen, altherkömmliche Mittel, die aber in den ersten beiden Sätzen ausgespart werden und so nach sekundengeschärften Zweistimmigkeiten die Räume zu größerem melodischem und harmonischem Reichtum freigeben. Interessant dabei ist, daß diese beiden neuen Themen jenen Instrumenten zu geteilt werden, die das thematische Konfliktmaterial im ersten Satz zuerst into nierten, dem Horn und dem Englischhorn — ein Beleg für die auch auf die Instrumentation ausgedehnte kompositorische Logik. Mit überlegener geistiger Klarheit und menschlicher Wärme begegnet Carlstedt der Herausforderung des thematischen Vorwurfs seiner 2. Sinfonie und setzt somit dem Ringen Dr. Martin Luther Kings ein musikalisches Denkmal, dessen Ein dringlichkeit den Hörer zu bewußter Anteilnahme aktiviert. Das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 99 von Dmitri Schostakowitsch, 1947/48 erstmalig konzipiert, 1955 schließlich vollendet, stellt eine der hervorragendsten Schöpfungen des großen sowjetischen Meisters dar. Der Komponits widmete das ungemein dramatische, konfliktgeladene Werk David Oistrach, der es am 29. Oktober 1955 in Leningrad erfolgreich uraufführte. Oistrach, einer der besten Kenner dieses Konzertes, veröffentlichte 1956 in der Fachzeitschrift „Sowjetskaja Musyka" nachstehende informative Charakterisierung des Werkes: „Strenge Verhaltenheit der Gefühle charakterisiert den ersten Satz (Moderato), der den Titel .Notturno' trägt. Er entwickelt sich in breitem, melodischem Fluß, in