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Neben der Oper „Palestrina“ gibt die Kantate „Von deutscher Seele" einen nachdrücklichen Beweis dafür. Freilich, der Titel mag heute durch den Miß brauch der Begriffe im faschistischen Deutschland und zum Teil auch heute noch in der Bundesrepublik zunächst einen merkwürdigen, ja unangenehmen Beiklang haben. Doch darf daraus nicht auf einen nationalistischen oder deutschtümelnden Charakter des Werkes geschlossen werden. Ja das Wort deutsch kommt im Text nicht einmal vor. Pfitzner wählte für diese 1920 geschaffene „Romantische Kantate" Sprüche und Gedichte von Joseph von Eichendorff aus, mit denen er sich in den schweren, wider sprüchlich verlaufenden Jahren nach dem ersten Weltkrieg zu den großen huma nistischen Traditionen seines Heimatlandes bekennen wollte. Bei genauer Be trachtung erweist sich das Werk als ein tief beeindruckendes künstlerisches Doku ment seiner Zeit. Auswahl, Anordnung und vor allem die Vertonung der Gedichte lassen deutlich werden, in welchem Maße die Kantate von den Erschütterungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre geprägt ist. Für den ersten, „Mensch und Natur" überschriebenen Teil des Werkes verwendete Pfitzner die sieben Wandersprüche aus den „Wanderliedern" Eichendorffs, ein Wanderlied und den „Nachtgruß" aus den „Geistlichen Gedichten". Sogleich der einleitende Wanderspruch „Es geht wohl anders, als du meinst", dem Soloalt und Solobaß anvertraut, läßt an tragische Erlebnisse denken, vor allem durch den Ernst der in d-Moll beginnenden Musik. Mit der Wendung „Und kaum hast du dich ausgeweint, lacht alles wieder, die Sonne scheint“ läßt Pfitzner den Weg für eine freundlichere Entwicklung offen, durch den Sopraneinsatz und die strahlende Wiederholung durch den Tenor unterstrichen. Doch dann greift Pfitzner auf die Einleitungstakte zurück und bezieht die wiederkehrenden Anfangsworte auf sie. So schließt er auch den ernst mahnenden dritten Wanderspruch „Was willst auf dieser Station" in dunklem f-Moll an. Die bewegten Rhythmen des Tenorsolos erhalten durch trauermarschartige Akkorde der Bläser eine schwere Begleitung. Das folgende Zwischenspiel „Tod als Postillon" entwickelt diese musikalischen Gedanken kontrastreich zu erregten Höhepunkten weiter und beschwört die Unerbittlichkeit des Todes herauf. Baß- und Altsolo wiederholen sodann die Dichterworte mit noch größerem Ernst, der hier erstmals eingesetzte vierstimmige gemischte Chor bekräftigt sie. Eine kurze langsame Überleitung führt zu einer jetzt nicht unbedingt erwarteten, durch die Gegensätze des ersten Wanderspruches aber doch vorbereiteten Wen dung. Die Solostimmen tragen im Wechsel mit dem Chor in freundlichem A-Dur „leicht und flott" die erste Strophe des Spruches „Herz, in deinen sonnenhellen Tagen“ vor. Die mehrfache Wiederholung der dritten und vierten Zeile „Allwärts fröhliche Gesellen" weckt frohe Wanderstimmung und Geselligkeit. Doch die zweite Strophe dieses Spruches „Sinkt der Stern: alleine wandern" verdrängt diese Stimmung wieder. Ernst trägt der Chor die vier Zeilen dieser Strophe vor. Nun aber wiederholt Pfitzner nochmals die erste Strophe und läßt den Abschnitt fröh lich ausklingen, als Gegenstück zum ersten Spruch. „Energisch, mit Humor" will Pfitzner den Spruch „Der Sturm geht lärmend um das Haus“ von den vier Solisten und dem Orchester vorgetragen haben. Es ist freilich kein unbekümmerter, sondern ein hintergründiger Humor, der den Trotz gegen den Sturm in bewegten Figuren besingt. Ein etwa zehn Minuten langes Orchesterzwischenspiel „Abend — Nacht" läßt Eichendorffsche Abend- und Nachtstimmung in schönster Weise musikalisch er leben. Einem wie aus der Ferne erklingendem Hornsolo, von zarten Harfentönen begleitet, folgt eine zärtliche Streicherkantilene, die auch wehmütige Stimmungen mit einschließt. Dazukommende dunkle Bläserfarben und wachsende Ruhe leiten zum Abschnitt „Nacht“ über. Eine feierliche, choralartige Weise mit einfachen, doch für ihre Zeit durchaus neuartigen Akkordfolgen der Blechbläser bildet den tief beeindruckenden Höhepunkt dieses großartigen Orchesterstückes, das einen Begriff vom Instrumentalkomponisten Pfitzner vermittelt. Mit den folgenden Sprüchen und Gedichten werden die Tageszeiten besungen. Die Lerche und der Hahn grüßen den Morgen mit hellen und lustigen Tönen. Der Tag wird mit dem ewig muntren Spiel der Wellen verglichen. Die Zeilen „Viele hast du schon belogen, mancher kehrt nicht mehr zurück" lassen wieder ernste Töne aufklingen. Mit den Gedichten „Der Wandrer, von der Heimat weit" und „Nachtgruß — Weil jetzo alles stille ist" verbindet Pfitzner die Thematik des Zwischenspieles „Abend — Nacht". Der „Nachtgruß", einer der schönsten Chöre jener Zeit, dem Schlußchor „Auferstehn" in Gustav Mahlers zweiter Sinfonie geistig verwandt, beschließt den ersten Teil. „Leben und singen“ überschrieb Pfitzner den zweiten Teil der Kantate mit Ge dichten aus verschiedenen Sammlungen Eichendorffs. Er hebt mit einem Orchester vorspiel in e-Moll noch ernster als der erste Teil an. Ein langsames Schreiten mit einem unerbittlich wiederkehrenden klopfenden Rhythmus läßt an einen Trauer marsch denken. Doch es ist die Melodik und Rhythmik des Gedichtes „Wir wan dern nun schon viel hundert Jahr und kommen doch nicht zur Stelle", das von Chor und Orchester zu gewaltigen, mahnenden Höhepunkten entwickelt wird. Die Strophe „Was ich wollte, liegt zerschlagen" aus der Gedichtgruppe der „Um kehrende" schließt sich mit ebenso großem Ernst an. Ein Flötensolo leitet zum Orchesterzwischenspiel „Ergebung" über, das von tragischen, sehnsuchtsvollen und zugleich auch tröstlichen Stimmungen durchdrungen ist. Einen scharfen Kon trast dazu schafft die bewegte Chorszene „Der jagt dahin, daß die Rosse schnau fen". Das Orchester führt diese Gedanken noch weiter und leitet allmählich zum Spruch über „Gleich wie auf dunklem Grunde der Friedensbogen blüht", der das versöhnende Lied besingt. Eine Liedfolge, als „Liederteil" bezeichnet, läßt den zweiten Teil ausklingen. Sie beginnt mit dem ernsten Lied „Der alte Garten“ für Sopransolo. Ein vom Chor a-cappella verhalten und innig vorgetragener Spruch bezeichnet das Leid als mächtigste aller guten Schwingen. Die Romanze von der Nonne und dem Ritter führt diese ernsten Stimmungen weiter, Stimmungen voller Wehmut und doch Schönheit, dem ergreifenden „Abschied“ in Gustav Mahlers „Lied von der Erde" nahestehend. Erst der Chor „Wohl vor lauter Sinnen, Singen" läßt wieder heitere Töne auf kommen. Unmittelbar schließt sich der vom Sopran vorgetragene Spruch an „Hast du noch Flügel eben". Nochmals kehrt der Ernst zurück mit dem vom Solobaß gesungenen Gedicht „Der Friedensbote". Einen Schifferspruch aus den „Geist lichen Gedichten“ gestaltet Pfitzner zum großen Finale mit den vier Solisten, dem Chor und Orchester und der Orgel. Er ist von Tatkraft und Zuversicht durchdrungen und gipfelt in einem strahlenden Hymnus in D-Dur, der das d-Moll des Kantaten anfanges überwindet. Mit dieser Kantate schuf Hans Pfitzner ein Werk, das aus der großen Traditions linie von den Passionen und der h-Moll-Messe Bachs über Beethovens „Missa solemnis", Mendelssohns oratorische Werke, Brahms’ „Deutsches Requiem" bis zu den großen Vokalsinfonien Gustav Mahlers zu verstehen ist und wohl auch zu ihr gehört. Dr. Werner Wolf