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ZUR EINFÜHRUNG Während für viele Musikliebhaber der älteren Generation Werke wie die musika lische Legende „Palestrina“, das Klavierkonzert Es-Dur, das Violinkonzert h-Moll, die Kantaten „Von deutscher Seele“ und „Das dunkle Reich", das Streichquartett und die aus ihm hervorgegangene Sinfonie cis-Moll, das Klavierquintett und eine stattliche Reihe Lieder von Hans Pfitzner Begriffe bilden, mit denen sich große und nachhaltige Erlebnisse verbinden, hatten die Konzert- und Theater besucher der jungen und selbst der mittleren Generation bislang kaum Gelegen heit, diese Schöpfungen kennenzulernen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie können nur lesen, welche hohe Wertschätzung bedeutende Künstler der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Hans Pfitzner zuteil werden ließen. So bezeichnete Bruno Walter in seiner 1944/45 geschriebenen Selbstbiographie „Thema und Variationen" im Rückblick auf sein reiches Künstlerleben den „Palestrina" als „das gewaltigste musikalische Bühnenwerk" seiner Zeit und zählte die von ihm geleitete Uraufführung zu den großen Ereignissen seines Lebens. Wilhelm Furt wängler schrieb am 26. Dezember 1921 an Pfitzner, die Kantate „Von deutscher Seele“ sei „von allen den Werken, die wir bisher von Ihnen haben, vielleicht das größte". In einem Brief Albert Schweitzers vom 2. Mai 1929 zum 60. Geburtstag Pfitzners heißt es: „Ihre Cantate ,Von deutscher Seele' ist eines meiner größten geistigen und musikalischen Erlebnisse." Dem könnten weitere Äußerungen solch gewichtiger und unbestechlicher „Zeugen" hinzugefügt werden. Wenn seit dem VIII. Parteitag der SED und speziell seit der 6. Tagung des SED- Zentralkomitees im Juli 1972 eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe begann und dabei auch das Schaffen bedeutender spätbürgerlicher Kompo nisten wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg genauer untersucht wurde, scheint es angesichts der zitierten Äußerungen über Hans Pfitzner gegeben, auch dessen Werk erneut zu prüfen. Die Gründe, die es aus den Spielplänen fast gänzlich verschwinden ließen, sind vor allem ideologischer Natur und liegen in erster Linie in polemischen Äußerungen Pfitzners aus der Zeit kurz nach dem ersten und wiederum nach dem zweiten Weltkrieg. Als ein Künstler, der sein Heimatland und dessen Kultur von ganzem Herzen liebte, war Pfitzner von der Niederlage Deutschlands im Jahre 1918 tief getroffen. Wie die meisten seiner Generationsgenossen unter den Komponisten Europas ver mochte auch er die weltgeschichtlichen Ereignisse der Jahre 1917/18 nicht zu ver stehen. Vielmehr befürchtete er den völligen Zusammenbruch Deutschlands und den Untergang der deutschen Kultur. So hielt er es 1919 für angebracht, mit seiner Streitschrift „Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz" in die kunsttheoreti schen Debatten einzugreifen und nach Ursachen für ihn gefährlich dünkende Erscheinungen in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu suchen. Dabei gelangte er — von seiner durch den philosophischen Idealismus und be sonders durch Schopenhauer geprägten Weltanschauung ausgehend — neben durchaus aufschlußreichen Feststellungen in künstlerischen Fragen zu manchen ebenso drastischen wie falschen Äußerungen zur politischen Entwicklung, die — aus dem Zusammenhang gelöst — wie eine frühe Darlegung faschistischer Gedanken erscheinen können und im Frühjahr 1923 während eines Krankenhausaufenthaltes zu einem Besuch Hitlers führten. Auch in seiner 1940 abgefaßten Schrift „über musikalische Inspiration" bezog sich Pfitzner nochmals auf derartige Formulie rungen. Dennoch darf daraus nicht mechanisch der Schluß gezogen werden, Pfitzner gehöre zu den Parteigängern oder gar geistigen Wegbereitern des deutschen Faschismus. Gewiß war er, gleich manchem seiner Komponistenkollegen wie Arnold Schönberg und Igor Strawinsky — ohne genaue Kenntnis zu besitzen — ein entschiedener Gegner der marxistischen Philosophie und des wissenschaftlichen Sozialismus. Dazu setzte er beides, obwohl er mit jüdischen Künstlern eng befreundet war und deren Leistungen ehrlich bewunderte, mit den gefährlichen und dabei unklaren Begriffen „international-jüdisch" gleich. Dennoch führte die Begegnung mit Hitler nicht nur zu keiner Annäherung, sondern, wie Ludwig Schrott in seiner Pfitzner- Monographie 1959 belegt hat, zu Meinungsverschiedenheiten. Hitler war mit Pfitzners Freundschaften zu jüdischen Künstlern, der Wertschätzung für Otto Wei- ninger nicht einverstanden und hielt Pfitzner selbst für einen Juden, der mit seinem Bart „wie ein alter Rabbiner" vor ihm gelegen habe. Das Eintreten Pfitzners für 1933 bedrängte und entlassene jüdische Künstler in Briefen an Verantwortliche des Nazireiches ließ ihn für die braunen Machthaber sofort verdächtig erscheinen. Er selbst erklärte in einem Brief vom 13. April 1933 an Arthur Eloesser, daß er „die Art, in der sich das neue Deutschland zunächst auswirkt, nicht mitmache". Mit Vollendung seines 65. Lebensjahres wurde er entgegen den Gepflogenheiten als Lehrer an der Münchener Akademie der Tonkunst mit Verpflichtungen an der Oper, im Rundfunk und im Konzert sofort pensioniert. Eine sich daraus ent wickelnde heftige Auseinandersetzung führte 1935 in einer erbitterten Aussprache zu der Drohung Görings „Wissen Sie, daß ich Sie nach Oranienburg bringen lassen kann?" und Pfitzners Antwort „Tun Sie es, wenn Sie es wagen!" Die von Goebbels ausgesprochene Ernennung zum Reichskultursenator war ein Schachzug, der nach außen Übereinstimmung markieren sollte, jedoch keinerlei Bezüge oder Rechte erbrachte. Pfitzner selbst bemerkte dazu: „In der Tat hat ein Reichskultursenator weder im Reich noch in der Kultur noch im Senat etwas zu sagen." Zum 70. Ge burtstag Pfitzners wurden auf Geheiß Hitlers 1939 jedwede Ehrungen untersagt. In der Befürchtung, das Nazireich könne ihn überleben, verfaßte Pfitzner am 11. März 1942 eine Denkschrift. Darin stellte er lakonisch fest, es sei „in meinem Falle zu erwarten, daß das sogenannte Dritte Reich, das Deutschland Adolf Hitlers, nach meinem Tode den Anspruch erheben wird, mich von je erkannt, gefördert, ja entdeckt zu haben. Der Verbreitung dieser Lüge soll hiermit Einhalt geboten werden." Eigenartigerweise wurden bislang in Debatten um Pfitzner meist nur jene Äuße rungen, die aus dem Zusammenhang gerissen als Übereinstimmung mit dem Nazireich erscheinen können, angeführt, nicht aber die Gesamthaltung und das Werk Pfitzners beachtet, die ganz von den Idealen des bürgerlichen Humanismus der vorangegangenen Jahrhunderte geprägt sind und durchaus nicht zu Hitler- deutschland passen. Bruno Walter, selbst von den Faschisten in schmählicher Weise aus Deutschland vertrieben, nahm in einem Brief am 20. Dezember 1955 zu dieser Problematik mit folgenden Worten Stellung: „Wer ihn . . . so gut gekannt hat wie ich, mußte sich immer der unbegreiflichen Gegensätze in seiner im Grunde hochgerichteten Persönlichkeit mit Erstaunen bewußt sein. Wir haben doch kaum ein Werk von höherem moralischen Ernst und innigerer Herzensweisheit als seinen Palestrina, die auch den Menschen charakterisieren. Man täte ihm unrecht, aus seinem Verhalten auf seinen wahren Charakter zu schließen. Denn wer Hans Pfitzner wirklich nahegestanden hat, weiß, daß seiner Seele jede Unmenschlichkeit weltenfern und unerträglich war."