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1. Januar 1908. Aus Fachvereinen. Stahl und Eisen. 29 für den Abschluß eines neuen Zolltarifs und neuer Handelsverträge, für die dieses Mal wahrscheinlich in erster Linie die Industrie eintreten wird, in nicht zu langer Zeit beginnen, denn es wird darauf ankommen, die Schädigungen der Industrie, auch der Eisen- und Stahlindustrie, die sich in schlechteren Zeiten deutlich zeigen werden, künftig wieder gutzumachen. Das wird eine schwer zu erfüllende Aufgabe für die Indu strie sein, namentlich da sie in der parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes kaum Freunde hat. Unter diesen Umständen wird die Eisen- und Stahl industrie ihre in dem großen Hauptverein geschaffene Organisation bitter notwendig haben. Sie wird daher alles auf bieten müssen, ihren Verein zu erhalten und zu kräftigen. Diese Notwendigkeit tritt nicht nur wegen der Zollpolitik, sondern auch im Hinblick auf die andern Gebiete in unserm öffentlichen Leben her vor. Der Geschäftsführer bittet die Versammlung, zunächst die Verhältnisse auf dem Verkehrswesen in Betracht zu ziehen und zu erwägen, daß alle Be mühungen auf Herabsetzung der Gütertarife bisher vergeblich gewesen seien. Er verweist auf die vom Stahlwerksverbande angeregten Bemühungen des Zen tralverbandes, zunächst wenigstens eine teilweise Her absetzung der Abfertigungsgebühren herbeizuführen; auch diese seien bisher erfolglos geblieben. Ziffer mäßig weist der Geschäftsführer nach, daß die Fracht gebühr für das Tonnenkilometer vom Jahre 1899 ab sich mit rund 3,55 8 gleichgeblieben sei, während in andern Ländern wesentliche Ermäßigungen stattge funden hätten. Bei der ungünstigen Finanzlage des Reiches und den großen Ansprüchen, die neuerdings auch an die Finanzen Preußens gestellt worden seien, wäre eine Herabsetzung der Gütertarife in absehbarer Zeit kaum zu erhoffen. Schwer geschädigt werden die Industrien, und namentlich die Kohlenindustrie, durch den Wagenmangel. Infolge desselben haben vom August 1906 bis Januar 1907 in dem rheinisch- westfälischen Kohlenrevier 122 405 Feierschichten ein gelegt werden müssen, wodurch den Arbeitern ein Lohnverlust von rund 600 000 6 bereitet worden sei. In diesem Jahre sei der Wagenmangel größer ge wesen. Es liegt nahe, daß diese Verluste die Stim mung der Arbeiter ungünstig beeinflußt hätten. Von den großen Verlusten der Zechenverwaltungen wolle er nicht weiter reden, sondern nur den Wunsch aus sprechen, daß, wenn wirklich die Beschäftigung unserer Eisen- und Maschinenindustrie wesentlich nachlassen sollte, der Herr Minister der öffentlichen Arbeiten diese Zeit benutzen möchte, um das Eisenbahnmaterial für bessere Zeiten ausreichend zu vervollständigen, die zweifellos wieder folgen würden. Der Geschäftsführer macht dann genauere Mitteilungen über die Vorgänge auf handelspolitischem Gebiete, besonders über die Regulierung der Handelsbeziehungen und den Abschluß von Verträgen mit Spanien, Montenegro, mit der Türkei, mit den Vereinigten Staaten und mit England. Der Geschäftsführer hebt besonders an der Hand von Zahlen die Bedeutung des Handelsverkehrs mit den Ver einigten Staaten und mit England hervor, wobei er bedauernd die Schädigungen betont, die unserer Aus fuhr durch die Begünstigung der englischen Einfuhr bei den englischen Kolonien bereitet werden. Der ungünstige Stand des Wechselkurses müsse als ein sicheres Zeichen dafür betrachtet werden, daß unsere Handelsbilanz sich ungünstig gestaltet. Um so mehr sei es zu bedauern, daß eine unserer bedeutendsten Exportindustrien, die Zuckerindustrie, das bedeutende Absatzgebiet in den Vereinigten Staaten anscheinend für immer verloren habe, und daß auch der Absatz in England durch die neuesten Aenderungen der Brüsseler Konvention wesentlich vermindert werden dürfte. Denn diese Aenderung gestatte England, Prämienzucker einzuführen, wodurch der englische Markt auch dem russischen Zucker geöffnet worden sei. Die Betrachtung der Arbeiterverhältnisse führte den Geschäftsführer auf das Gebiet der Sozial politik. Der Arbeitermangel, der bei allen Indu strien, besonders aber bei der Montan- und Eisen- und Stahlindustrie ungemein störend fühlbar geworden sei, habe den Höhepunkt überschritten. Trotz Hoch konjunktur und Arbeitermangel sei die Streikbewegung aber in den letzten Jahren zurückgegangen. Nach Angabe der ziffermäßigen Beweise hierfür stellt der Geschäftsführer die Behauptung auf, daß die Organi sation der Arbeitgeber in Arbeitgebervereinen doch ihre Wirkung ausgeübt habe. Die Führer scheinen es sich doch reiflicher zu überlegen, ehe sie die Ar beiter in große Arbeitseinstellungen hineintreiben. Dennoch müsse dem großen Fortschritte der Gewerk schaftsorganisation der Arbeiter ernste Beachtung zu gewendet werden. Diese Organisationen hätten im Jahre 1906 rund 400 000 neue Mitglieder erworben. Man werde wohl annehmen können, daß mit Ende dieses Jahres gegen zwei Millionen Arbeiter organi siert sein würden. Hieran knüpft der Geschäftsführer Mitteilungen über die außerordentliche Opferwilligkeit der Arbeiter, namentlich der Arbeiter in den sozialdemo kratischen Gewerkschaften. Der Durchschnittsbeitrag pro Kopf der Mitglieder sei gestiegen von 6,68-% im Jahre 1891 auf 24,62 .6 im Jahre 1906. Der Beitrag bei den einzelnen Gewerkschaften sei sehr verschieden; so zahlten im Jahre 1906 die Wäschearbeiterinnen pro Kopf 5,44 Ai, die Lithographen 84,11 Jt. Alle Organi sationen zusammen hatten im Jahre 1906 eine Jahreseinnahme von 46 651 848 «, eine Jahresausgabe von 41 285 423 . und einen Vermögensbestand von 31544660 -%. Die in der Generalkommission ver einigten sozialdemokratischen Gewerkschaften allein hatten einen Vermögensbestand von 25 312 634 K. Diese Verhältnisse sollten vorbildlich für die Ziele sein, die die Arbeitgeber in ihren Arbeitgeberver bänden zu verfolgen hätten. Der Geschäftsführer hob dann hervor, daß der Abschluß von Tarifverträgen von den größeren Industriellen nach wie vor nicht für geeignet zur Regelung des Arbeiterverhältnisses an gesehen werde. Wenn auch immer auf die große Zahl der im Gewerbe abgeschlossenen Tarif verträge hingewiesen werde, so sei hervorzuheben, daß dieser Abschluß fast ausschließlich unter dem Zwange der Arbeiter erfolgt sei, dem sich das kleinere Gewerbe nicht habe entziehen können. Es treten auch schon genügende Anzeichen hervor, so beispielsweise im Baugewerbe, daß die ungünstige Konjunktur dazu benutzt werden würde, wenn auch nicht die Tarifver träge ganz abzuschütteln, so doch ihnen eine für die Arbeitgeber günstige Gestalt zu verleihen. Nachdem der Geschäftsführer noch einen Blick auf die von dem Verbände bayrischer Metall-Indu strieller organisierte Schlichtungskommission getan hat, geht er dazu über, nähere Mitteilungen über den Stand der Arbeiterversicherung zu machen. Aus diesen ist besonders hervorzuheben, daß gegen wärtig täglich über 11/2 Mill. Mk. für die Arbeiter versicherung ausgegeben werden, während ihre ge samten Einnahmen einschließlich Zinsen usw. 7,1 Milliarden betragen. Der Vermögensbestand unserer Versicherungsanstalten stellte sich zu Ende des Jahres 1906 auf 1657 Millionen Mark. Den größeren Teil dieser Aufwendungen haben die Arbeitgeber ohne Murren mit großer Opferwilligkeit getragen. Nur gegen die leichte Erhöhung der Beiträge zu dem Reservefonds der Unfallversicherung hätten sie ent schieden Einspruch erhoben. Für die großzügige So zialpolitik Kaiser Wilhelms und seines unvergeßlichen Kanzlers habe die Industrie stets volles Verständnis gezeigt und sie nach Kräften unterstützt. Um so mehr aber sei eie berechtigt, Widerspruch zu erheben gegen die Sozialpolitik der letzten Jahre, die ihre Aufgabe in immer weiteren Einengungen und Be-