Volltext Seite (XML)
Will man Bruckner in heutiger Zeit gerecht werden, ist es notwendig, sich von den mystifizierenden Bruckner- Darstellungen der Biographen und Kommentatoren zu distanzieren, wie sie von Bruckners Tode bis hinein in die dreißiger Jahre unseres Jahrhun derts gang und gäbe waren. Gewiß, Anton Bruckner ist als Künstler, in seiner persönlichen Entwicklung, sei nen Beziehungen zur Umwelt und nach geschichtlicher Stellung seines Werkes nicht leicht zu beurteilen. Wie viel Rätselhaftes hat es z. B. an sich, daß ein von Kindesbeinen mit Musik auf gewachsener fast 40jähriger Mann, der zwar eine tüchtige handwerkliche Praxis als Organist, Chorleiter, Lehrer und Kontrapunktiker besaß, dessen Kompositionen sich bis dahin jedoch ängstlich an gegebene Muster ge halten hatten und übliches Mittelmaß nicht überschritten, daß dieser Mann plötzlich als ein Fertiger mit einer Sinfonie aufwartete, die all das in sich barg, was die späteren Meisterwerke auszeichnet: feierliches Pathos, reiche Kontrapunktik und an Wagner ausge richtete Harmonik und Orchester behandlung (es handelt sich um die erste Fassung der Sinfonie in d-Moll, später von Bruckner als „Nr. 0" be zeichnet und vom greisen Meister ver nichtend beurteilt). Wie ist weiter zu verstehen, daß der dem Lehrerberuf verschriebene, in der klösterlichen Stille von St. Florian in frommer Einfalt aufgewachsene, gänzlich dem Orgel spiel ergebene Anton Bruckner ein Lebenswerk hinterläßt, in dem die zehn festgefügten Blöcke seiner Sinfonien dominieren und nicht die Kirchen musik, die entweder unbedeutend oder zahlenmäßig geringfügig ist (drei große Messen, Te deum, Requiem)? Weiter will nicht zueinander passen, daß der ängstlich-scheue, am eigenen Können oft zweifelnde, allen möglichen Titeln und Anstellungen hinterher jagende, von Mißerfolgen enttäuschte, in seinen Äußerungen devote Kompo nist unbeirrbar trotz aller M i Blich - keiten und äußeren Angriffe Sinfonie auf Sinfonie schreibt, Riesengebäude errichtet, wie sie die Musik bis dahin nicht gekannt hatte. All das und noch andere Widersprüchlichkeiten boten Spekulationen, Mystifizierungen und Mißdeutungen genügend Raum. Wie sehen wir Bruckner heute, in einer Zeit, die nur noch wenig Raum bietet für Zeitferne, Geschichtsfremde und Mystik? ( Diese Frage ist einzig und allein mit der Gültigkeit seiner Musik zu beant worten. Georg Knepler weist mit Recht darauf hin, daß Bruckners Sinfonien in der Anlage, die einer großen Kon zeption entspringt, der beethovenschen Tradition entsprechen. Es sind Be kenntnisse, Darstellung einer Welt anschauung. Daß Bruckner andere Lösungen seiner Konflikte findet, un terscheidet ihn grundsätzlich von Beethoven. Auch Bruckner schreibt „Finalwerke", aber „bei Beethoven wird das Menschenleid durch Kampf überwunden. So ist es notwendig und logisch, daß diejenigen Themengrup pen, die Leid und Zweifel darstellen, durch andere, die Kampf und Sieg verkörpern, abgelöst .überwunden' werden. Bei Beethoven brauchen, ja können die Themen überwundener j Episoden nicht wiederkehren, wenn " der Sieg errungen ist. Ganz anders bei Bruckner. Durch die Kombination seiner kämpferischen mit seinen gottesfürchtigen Themen werden die letzteren zwar in ihrem Charakter ver wandelt, aber nicht überwunden. Bruckners Lösung besteht darin, daß Menschenleid durch Gottesglauben verklärt wird. Es ist die Haltung eines Mannes, der nicht auf Menschenkraft, sondern auf Gott vertraut, die sich in Bruckners Sinfonien widerspiegelt." (Knepler). Wir Heutigen begreifen und verstehen die Monumentalität sei ner Sinfonien (womit nicht gesagt ist, daß es eine Kleinigkeit sei, ihre riesi gen Dimensionen zu erfassen). Wir sind heute frei von Fehlauffassungen, wie sie ehrliche Freunde und Weg bereiter des Meisters hatten, die glaubten, durch Uminstrumentationen, Kürzungen, Bearbeitungen den Sinfo nien Bruckners zum Durchbruch ver helfen zu können, indem sie den Hör gewohnheiten des damaligen Publi kums entgegenkamen. Es ist das Ver bdienst von Robert Haas, mit der Her stellung der sogenannten „Original fassungen" alle Zusätze von fremder Hand beseitigt zu haben (wie weit Bruckner den Umarbeitungen, ob widerwillig oder halb überzeugt, gedrängt oder aus eigenem Antrieb, zugestimmt hat, ist fraglich). Bruckners Originalpartituren sind die von ihm selbst „für spätere Zeiten" für gültig erklärten Druckfassungen. An dieser Stelle sei noch auf ein paar Eigentümlichkeiten in Bruckners Schaffen hingewiesen. Es wurde schon gesagt, daß Bruckner in seinem ersten Sinfonieversuch als ein Fertiger auf trat. Von da an gibt es in seinem ge samten Schaffen keine künstlerische Entwicklung mehr im Sinne eines Fortschreitens von Werk zu Werk, eines sich weitenden künstlerischen (Horizontes, einer veränderten Auf gabenstellung oder eines Suchens nach neuen musikalischen Ausdrucks bereichen. Bei Bruckner weiten sich nur mit jedem neuen Werk Dimensio nen und Kraft des Ausdrucksver mögens. Friedrich Blume schreibt darüber: „Es geschieht der Größe Bruckners kein Eintrag, wenn man aus spricht, daß von der Sinfonie Nr. 1 bis zur Sinfonie Nr. 9 Grundriß, Anlage, Einzelformen, Instrumentation, Klang sprache, Tonalitätsverhältnisse usw. einander grundsätzlich gleich bleiben und eine romantische „Originalität" des Ausdrucks, die ein Werk vom an deren grundsätzlich unterschiede, gar nicht angestrebt wird. Die Sinfonien Beethovens, Schumanns oder Brahms’ stellen, jede für sich, eine unverkennbare Individualität dar: Ton und Sprache, Bewegungsform und Thematik, das gegenseitige Ver hältnis der Sätze, sind höchst .indi viduell' und jedesmal unverkennbar .anders'. Bruckners Sinfonien hinge gen wirken wie neun von Stufe zu Stufe immer weiter ausgreifende, kraft vollere, überzeugendere, immer ein dringlicher und packender werdende Lösungen eines einmal gestellten Problems. . . . Mit leichter Übertrei bung kann man sagen, daß alle Hauptthemen der Ersten Sätze, alle Gesangthemen der Ersten Sätze, alle Hauptthemen der Adagiosätze, alle Scherzo- und Triothemen, alle .Cho ralthemen' usw. usw. einschließlich der Nebenthemen durch .Familien ähnlichkeit' verknüpft sind. Sie wirken alle wie Abwandlungen je eines Ur- modelles. Sie alle, Themen, Form bildungen, Rhythmen, Modulationen sind immer .unverkennbare Bruckner', aber niemals .unverkennbar 3. Sin fonie' oder irgendeine andere." Was sind die Inhalte seiner Sinfonien? Noch einmal sei Friedrich Blume zitiert, der darauf hinweist, daß Bruckners Weltanschauung von einer Reihe von elementaren Gegensatz paaren bestimmt sei: „Gott und Teufel, Leben und Tod, Gut und Böse, Selig keit und Verdammnis, Licht und Finsternis, Niederlage und Sieg sind die Welt, in der er lebt." Und das ist auch Bruckners musikalische Welt. Er ist gewiß der Unliterarischste von allen Komponisten des 19. Jahrhun derts, ihm ist gar nicht eingefallen, seiner Musik „Handlungen" zu unter stellen. Wenn er z. B. für den ersten Satz der 4. Sinfonie und für das Finale