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hafter Betriebsamkeit. Im Mittelteil des Satzes erscheint ein neues phantastisches Schlachtenbild; an seinem Ende tobt ein ungestümer, düsterer Orkan. Dann beginnt die tiefe Nachdenklichkeit des vierten Satzes (Largo), der in der Form einer Passacaglia geschrieben ist. Das strenge und bedeutungsvolle Thema erscheint zwölfmal im Baß. Ohne große Steigerungen, ohne scharfe Kon traste stellt sich uns der Satz dar als ein Versuch, das, was vorgeht, mit dem Herzen zu erleben. Das düstere gis-Moll dieses Satzes wird vom hellen C-Dur des Finales (Alle- gretto) wie die Nacht vom Morgen abgelöst. Die Natur lebt von neuem auf in ihrer großen Harmonie. Im Mittelpunkt des Finales steht eine sich frei ent wickelnde Fuge, aufgebaut auf einem Thema, das in der Intonation den Themen des ersten Satzes nahesteht. Die Reminiszenzen der tragischen Themen zwingen dazu, sich in Gedanken noch einmal mit dem Durchlebten auseinanderzusetzen. Aber das pastorale Thema des Satzbeginns taucht wiederum auf, hier als ab schließendes Bild des Finales. Prof. Dr. Walther Siegmund-Schultze Dmitri Schostakowitsch zum Gedenken (II) Zum tragödienhaften Zug der Sinfonik Schostakowitschs muß gesagt werden, daß er hier Erbe sowohl Beethovens wie vor allem Tschaikowskis ist. Nur wenige Hauptwerke des Meisters enden in unbekümmerter Heiterkeit; selbst die der „Ersten" und „Sechsten" ist schwer errungen. Es ist aber nicht mehr so, daß sich der Mensch der neuen Gesellschaft nicht verwirklichen könnte. Ideell ist das klare Ziel gegeben, es gibt aber noch viele Unvollkommenheiten, er darf es sich nicht zu leicht machen, und — nicht zuletzt - wie es die 7. und 8. Sinfonie zeigen, gibt es eine feindliche Außenwelt, die niedergerungen werden muß. Die Aussage der 5., der 7. und 8. Sinfonie ist deshalb am eindeutigsten; auf anderer Ebene, aus historischem Blickpunkt, zeigen das die 11. und 12. Sinfonie, großartige ideen- und geschichtsprogrammatische Bilder, deren scheinbar tragisches Ende vom höchsten Optimismus und selbstverständlicher Sicherheit getragen ist. Der tragödienhafte Zug dieser klingenden Geschichtsepen ist überwältigendes Be kenntnis zur Humanität und zum Siege des sozialistischen Gedankens. Das tragische Pathos der Sinfonik, z. T. auch der Kammermusik Schostakowitschs ist historisch konkret und begründet, ist vor allem nie bloßes individuelles Bekennt nis, sondern Ausdruck und Zielsetzung eines unbesiegbaren Kollektivs. Mag in der „Fünften" noch manches auf die individuelle Entwicklung des Meisters sich beziehen, die „Siebente" zeigt das selbstverständliche Kollektivbewußtsein, eine großartige sinfonische Vision aus der Tradition gewaltiger Musik von Bach und Händel über Beethoven bis zu Tschaikowski, aber aus einer neuen, zugespitzten, kritischen, siegesbewußten, konsequenten Haltung heraus. Die Größe dieser Konzeption liegt zweifellos in der völligen Übereinstimmung von Idealität und musikalischer Realität; die Konkretheit der Musik übersteigt hier, und an vielen anderen Stellen des Gesamtschaffens, die Konkretheit jeder anderen künstleri schen Aussage. Aber es gibt bei Schostakowitsch auch noch andere Möglichkeiten der Konflikt- und Lösungsgestaltung; wir finden sie vor allem in der 4., in der 6., in der 10. und in den beiden letzten Sinfonien. An solchen Werken empfinden wir, daß die Aussagekraft der sinfonischen Form unter solch einer schöpferischen Hand un endlich ist, auch keinerlei neuer technischer Mittel und Mittler bedarf. Als Ernst H. Meyer und ich im Jahre 1954 die DDR-Erstaufführung der 10. Sinfonie in der Deutschen Staatsoper erlebten, fragten wir uns: Warum dieser lange tragische, konfliktgeladene Gesang des ersten Satzes, der dämonische Marsch des zweiten, der zweifelhaft-zwielichtige Charakter des dritten; auch der vierte Satz ringt sich ja erst mühsam zum freudig-jubelnden Ende durch. Schostako witsch macht es uns hinsichtlch seiner technisch-musikalischen Mittel leicht; jeder musikalisch gebildete, ja auch kaum gebildete Laie wird von seinen Tönen und Rhythmen gefesselt. Aber im Hinblick auf die Problematik des sinfonischen, kon zertanten oder kammermusikalischen Geschehens ist das oft ganz anders; häufig muß man sich das anhören, muß darüber nachsinnen, wird zwangsläufig zu Le bensproblemen geführt, die weit über den musikalischen Bereich hinausreichen. Nachdem die 10. Sinfonie, darin zurückgreifend auf die „Erste", „Vierte" und „Fünfte", noch einmal die klassische Form der Beethovenschen Sinfonie bestätigt hatte, sind alle folgenden Alterssinfonien neuartig experimentierend angelegt; keine gleicht der anderen. Die ideelle Programmatik spitzt sich, nicht zuletzt durch klärende Überschriften, zu; die „Dreizehnte", ist eine vielgestaltige, kon trastreiche Chorkantate, die „Vierzehnte" eine elfsätzige Solisten-Kantate, die „Fünfzehnte" zwar viersätzig, aber gänzlich gegen die Konvention in sich geglie dert. Das leise Verklingen mancher dieser Werke — der „Vierten", „Elften" und „Fünfzehnten" — will nicht, wie bei Brahms' „Dritter", trösten, lindern, zurück weichen, zeigt aber auch keine Unsicherheit wie etwa Prokofjews „Siebente", die zwei Schlüsse, einen leise-elegischen und einen burschikos-kräftigen, zur Wahl offen läßt, sondern ist gesellschaftlich-historisch konkret im Sinne einer echten Problemstellung, selbst wenn es sich um ein individuelles Nachsinnen w:e bei dem letzten gewaltigen Werk handelt. Man kann aus solcher Sicht Schostakowitschs Sinfonik in drei großen Komplexen sehen. Der erste umfaßt die — seiner Wesensart ursprünglich vielleicht am mei sten liegende und in manchem mit Sergej Prokofjew harmonierende — kritisch satirische, ja heiter-lustige Seite, die beste klassische Tradition besitzt, aber einen oft sogar bissigen und turbulenten Charakter annimmt; dazu gehören die 1., die 6. und die 9. Sinfonie (obwohl Elemente dieses Typs natürlich auch in einzelnen Sätzen und Strecken der anderen Sinfonien zu finden sind). Den zwei ten Komplex möchte ich den ideologisch und politisch besonders engagierten Bereich seiner Sinfonik nennen, vertreten vor allem durch die 2. und 3., die 7. und 8. sowie die 11. und 12. Sinfonie. Es handelt sich hierbei um den repräsen tativen Hauptbestand der Sinfonik unseres Meisters, einen Block, dessen kultur politische Bedeutung ebenso außer Frage steht wie seine künstlerische Meister schaft im einzelnen. Den dritten Komplex bilden philosophisch gerichtete Werke wie die 4., 5., 10. und die drei letzten Sinfonien, also wiederum sechs an der Zahl, die beweisen, daß dieser unerhörte Musikant, dieser politisch engagierte Künstler zugleich ein tief philosophischer Kopf ist. In mancherlei Hinsicht sind diese Werke die erstaun lichsten; sie zeigen nicht nur, in wie hohem Maße die Musik fähig ist, philo sophische Gedanken, Gedanken über Leben und Tod, über unser Weltbild zu vermitteln und zu aktivieren; sondern unterstreichen, daß das wohl die edelste und höchste Aufgabe der Musik darstellt, ihr am gemäßesten ist, ob mit oder ohne Wortbindung. Natürlich geschieht das stets in Verbindung mit der konkre ten, historisch-ideologischen Situation, was schon die 5. Sinfonie beweist. Die „Zehnte" war da, wie angedeutet, eine neue wichtige Etappe; die beiden letzten Sinfonien zeigen eine wunderbare Reifung dieser Schaffenstendenz, die keinen Augenblick die Verbindung zu den großen Lebensaufgaben verliert, sondern sie in „erfüllter Innerlichkeit" im wahrsten Sinne aufhebt.