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DRESDNER PHILHARMONIE Freitag, den 11. Juni 1976, 20.00 Uhr Sonnabend, den 12. Juni 1976, 20.00 Uhr Festsaal des Kulturpalastes Dresden 9. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Hartmut Haenchen Solisten: Renate Krahmer, Berlin, Sopran Karl-Heinz Koch, Dresden, Tenor Ekkehard Wlaschiha, Leipzig, Bariton Chöre: Kammerchor des Philharmonischen Chores Philharmonischer Chor Dresden Orlando Gibbons 1583-1625 Londoner Straßenrufe - Fantasie für sechsstimmigen Chor und Instrumente Valentin Rathgeber 1682-1750 Aus „Ohrenvergnügendes und Gemüthergötzendes Tafelconfect" für Soli, Chor und Instrumente Quodlibeticum curiosum Quodlibeticum „Reim dich oder ich friß dich" Quodlibeticum „Mein Stimme klinge" Quodlibeticum „Von der Begierd zum Geld" Von der Solmisation in der Music Hans Leo Haßler 1564-1612 Aus „Neue Teutsche Gesang" für achtstimmigen Chor und Instrumente Mein Lieb will mit mir kriegen Im kühlen Maien Ich bring meim Bruder PAUSE Carl Orff geb. 1895 Carmina burana Weltliche Gesänge für Soli und Chor mit Begleitung von Instrumenten ZUR EINFÜHRUNG Der englische Komponist Orlando Gibbons, 1583 in Oxford geboren, 1625 in Canterbury gestorben, wurde von seinen Zeitgenossen als Organist und Virgi- nalist noch über William Byrd und John Bull gestellt, die die englische Musik um 1600 repräsentierten. 1604 wurde er zum Organisten der königlichen Kapelle er nannt. 1622 promovierte er zum Doktor der Musik. Zu seinem Kapellamt gesellte sich das Amt eines Hofvirginalisten und 1623 das eines Organisten von Westmin ster Abbey. Er komponierte Instrumental- und Vokalmusik; in letzterer verarbeitete er italienische Einflüsse. In seiner reizvollen Fantasie „Londoner Straßenrufe" für Chor und Instrumente überliefert Gibbons — wie auch andere englische Komponisten seiner Zeit — Worte und Melodien, mit denen „fliegende" Händler damals ihre Waren in den Straßen und auf den Märkten Londons anpriesen. Diese Rufe vererbten sich von einer Generation zur anderen genau in der gleichen Weise wie Volkslieder. Ein großer Teil der Rufe betrifft leicht verderbliche Eßwaren. Besonders durchdrin gend riefen die Fischweiber. Fast ebenso zahlreich waren die Verkäufer von Damenputz. Diese Straßenhändler verkauften nicht nur, sondern sie kauften auch ein. Sie gingen von Tür zu Tür und fragten nach Kaninchenfellen, nach Gold- oder Silberresten. Zu den Verkäufern gesellt sich in unserem Stück der amtliche Ausrufer mit seinem Ruf von dem verlorenen Gaul. Der Ruf der Bettler für die Gefangenen in Londoner Gefängnissen hatte ebenfalls amtlichen Charakter. Ihnen war es gestattet, in einem Korb Brot und in einem Kasten Geld zu sammeln für die Gefangenen. Der einzige Rufer, der etwas Ordnung in das babylonische Durch einander brachte, war der Nachtwächter, der für Ruhe bei Nacht zu sorgen, darauf zu achten hatte, daß jeder Haushalt sein Scherflein zur Straßenbeleuchtung durch Aushängen einer Laterne beitrug, und der die Stunde und den Stand des Wetters verkündete. Den instrumentalen Teil der Fantasie bildet ein „In Nomine", eine altertümliche Form der Fantasie, die dadurch charakterisiert ist, daß sich eine Choralmelodie in starker Dehnung der Notenwerte durch das ganze Stück zieht. In unserem Falle dient das Trinitätslied „Gloria tibi trinitas" als „Gerüst" einer so weltlichen Kom position wie der Vertonung von Straßenrufen, was aber nicht verwundert, wenn man bedenkt, mit welcher Unbekümmertheit früher auch weltliche Texte und Melo dien umgekehrt Meßsätzen zugrunde gelegt worden sind. Valentin Rathgeber wurde 1682 in Oberelsbach (Unterfranken) geboren und verstarb 1750 im Kloster Banz (Oberfranken), über seine Ausbildung ist wenig bekannt geworden. 1704—1707 wirkte er als Schulmeister und Spitalorganist in Würzburg, trat dann in das Kloster Banz ein (als Musikus des Abtes) und wurde 1711 selbst zum Priester geweiht. Auch als Chorregent des Klosters war er tätig. In den Jahren 1729—1738 unternahm er ausgedehnte Reisen. Seit 1721 veröffent lichte er in Augsburg viele Kirchenmusikwerke, aber auch Instrumentalkonzerte. Als bedeutender Meister des volkstümlich-heiteren, oft quodlibetischen mehrstim migen Gesellschaftsliedes erweist sich Rathgeber in den anonym erschienenen ersten drei Trachten der Sammlung „Ohrenvergnügendes und Gemüthergötzendes T a f e l-C o n f e c t" (1733—1737). Diesem „Tafel- confect" fügte 1746 der Augsburger Kantor Johann Caspar Seyfert, Schüler Johann Georg Pisendels in Dresden, eine vierte Tracht hinzu. Das „Augsburger Tafelcon- fect" ist die wichtigste Quodlibetsammlung des 18. Jahrhunderts und enthält neben echten Quodlibets Liedstrophen und komische Kantaten. Unter Quodlibets (lateinisch = was beliebt) versteht man eine mehrstimmige, meist vokale Kompo sition, in der verschiedene Lieder oder Liedfragmente nacheinander oder über-