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Cannes und London. „Grund: Unwetter im Kanal", pflegte es bei Verkehrs störungen, namentlich beim Ausbleiben der englischen Brief post zu heißen. Auch von der Neise Herriots und seiner beiden Begleiter ClSmentel und Nollet wurde, bildlich ge sprochen, befürchtet, sie könnte ein folgenschweres Gewitter nach sich ziehen, wie es einmal in Tannes eine Konferenz auseinanderscheuchte. Der Aufbruch des französischen Minister präsidenten, der Hals über Kopf, fluchtähnlia), von der Themse an die Seine eilte, verriet, daß Gefahr im Verzüge lag. War der Aufbruch ein Abbruch? Nach dem Lärm, den die Pariser Rechtspresse schlug, sowie nach der bekannten Haltung der französischen Generale schienen die Pessimisten Recht behalten zu sollen. Der Kriegsminister war, seit er bei der Flotten- varade von Spithead durch Abwesenheit geglänzt hatte, in den dringenden Verdacht geraten, seinem Herrn und Meister ein Vein stellen zu wollen, und nachdem, entgegen der Ab machung, die Ruhrentsetzung sich zum Kardinalpunkt der Kon ferenzberatungen entwickelt hatte, stand die Entscheidung auf des Messers Schneide. Wenn es PoincarS und seinen Hinter männern gelang, das zur Lösung der Frage nötige Kompro miß als eine Gefährdung des französischen Prestiges den Massen glaubhaft zu machen, hatte das Militär das Spiel gewonnen; das Dawesschs Gutachten hätte eine unheilbare Verletzung erlitten, die anglosüchsische Hochfinanz würde den Daumen auf den Beutel gedrückt und die Konferenz ihr Ende wie damals in Cannes erreicht haben. Aber seit dem Scheitern jener Konferenz an der Azurküste hatte sich auch in Frankreich allmählich ein Stimmungswechsel vollzogen; der Sturz PoincarLs zeugte davon. Die Volksmeinung ist eine der Imponderabilien, die ein Diplomat in Rechnung stellen muß, wenn er Ahnungsvermögen besitzt; daran fehlte cs dem Marschall Foch, als er im Pariser Außenministerium mit dem dort eingetroffencn Herriot unter vier Augen ver handelte. Wie die Unterredung ausgelaufen ist, können wir der Auskunft entnehmen, die Herriot den Pressevertretern über den sich daranschließenden Ministerrat gegeben hat, wobei er erklärte: „Es gibt keine Meinungsverschiedenheiten, auch nicht zwischen mir und Nollet." Danach hat der Kriegs^ Minister den Marschall im Stich gelassen und sich auf die Seite des Zivils geschlagen. Das geht auch aus dem offiziellen Kommunique hervor, das folgenden Wortlaut hat: „Der Ministerpräsident und seine Kollegen Elemente! und General Rollet, die heute die auf der Londoner Konferenz zur Debatte stehenden Probleme in ihren verschiedenen Ele- menten übersehen, haben den Ministerrat davon unterrichtet, unter welchen Bedingungen die Verhandlungen ihren Fort gang nehmen. Der Ministerrat hat ihnen einmütig sein- volle Zustimmung erteilt. Herriot, Elemente! und General Nollet reisen heute, Sonntag, nach London zurück." Das Kommentar zu diesem Kommunique läßt nicht er- kennen, unter welchen Bedingungen — es spricht nur von „gewissen Bedingungen" — sich die Räuniung der Ruhr als eine der Konsequenzen der Inkraftsetzung des Sachverständi- genplanes vollziehen wird. Die französische Negierung bleibe ihrer Verpflichtung getreu und bei deren Verwirklichung würden die von Frankreich und Belgien zu fordernden Sicher heitsgarantien Berücksichtigung finden. In diesem besonde ren Punkt habe sich der um Rat gefragte Marschall Foch der Auffassung des Ministerpräsidenten und des Kriegsministers völlig angeschlossen. Dabei ist zu beachten, daß nur von diesem Punkre vorsichtigerweise die Rede ist, andere Punkte werden mit Schweigen übergangen, um die Nieder- läge des Poincaristen Foch nicht deutlich werden zu lassen. Wie die vorerwähnten Bedingungen ausschen werden, ist ein Kapitel für sich, nur scheint einstweilen der Fortgang der Konferenzverhandlungen gesichert zu ein. Herrioti st nachLon do n zuruckgekehrt, und zwar init Nollet, so daß das dreiblättr ge Kleeblatt wieder vollständig am Platze erscheint. Ausschlaggebend für diese Einigung waren offenbar wirtschaftliche Interessen, die von Seydoux, dem Direktor des Außenministeriums vertreten wurden. Es darf daran erinnert werden, daß dieser Kenner der Finanzverhältnisse einmal, als man in Paris vor Jahren die Schuloforderung an Deutschland auf 350 Milliarden Goldmark bezifferte, seinen Landsleuten begreiflich zu machen suchte, so viel ausgemünztes Gold gäbe es überhaupt nicht in der Welt. In London sprach man damals von astronomischen Zahlen. Jetzt hat sich die Rückkehr zur Vernunft, wenn amb mühselig durchgerungcn, und"auch: den Franzosen ist die alte Wahrheit aufaeaanacn. daß allzu scharf schartig macht. Die Friedensatmosphare greift langsam um sich, und km Hintergründe liegt als letztes Bändigungsmittel die Lösung der allgemeinen Entschuldungsfrage. Wenn wir uns die ungeheuere Aufregung vergegenwärtigen, die die Abreise Herriots ver- ursacht hat, und damit diese Ruhe nach dem Sturm vergleichen, dürfen wir wohl auf den baldigen Schluß der Konferenz zu rechnen haben und brauchen lein zweites Cannes zu be fürchten. v. ü. Dsr Reichspräsident in Münster. Am Verfassungstage, dem 11. August, weilte Reichspräsi dent Ebert, begleitet vom Reichsminister für die besetzten Gebiete vr. Höfle, dem preußischen Innenminister Seve ring und dem Staatssekretär Meißner in der westfäli schen Hauptstadt Münster, um hart an der Grenze des be setzten Gebietes der bedrängten Ruhr- und Nheinbevölkerung Dank zu sagen für ihre Treue und ihren Opfermut zum Reich. Ursprünglich war auch die Anwesenheit des Reichs- kanzlers vr. Marx vorgesehen. Derselbe war aber, wie be kannt, durch die letzten Vorgänge in London am Erscheinen verhindert. Bei der eigentlichen Verfassungsfeier in der Stadthalle hielt der Reichspräsident eine längere politische Ansprache, in der er u. a. betonte: „Unsere Anwesenheit hier, in der Hauptstadt Westfalens, der altehrwürdigen, für die Geschichte unseres Volkes so be deutsamen Stadt Münster, soll Ihnen bekunden, daß die Reichsleitung wie die Preußische Staatsregierung sich mit dieser Provinz und ihrer Bevölkerung eng verbunden fühlen und mit Ihnen brüderlichen Herzens die Sorgen teilen, die Sie in besonderem Maße bedrängen. Seit anderthalb Jah ren, seit dem Nuhreinbruch, liegen schwere Wolken auf diesem Lande, das die Schlagader unseres wirtschaftlichen Lebens in sich schließt; seit anderthalb Jahren sieht Westfalen und mit ihm die benachbarte diheinprovinz, wie sinnlos Werte der Arbeit und der Kultur zerstört und ver nichtet werden, wie verheerender Raubbau getrieben wird in einem Gebiet höchstentwickelter Arbeit, das in der Welt kaum seinesgleichen hat. Tausende haben die Treue zur Heimat, die Liebe zum Vaterlands mit Leben und Frei heit, mit der Vertreibung von Haus und Hof büßen müssen. Ls ist Ehrenpflicht, mit Dankbarkeit und Bewunderung unse rer Volksgenossen zu gedenken, die um Deutschlands willen Not und Verfolgung erduldeten. Erst nach langem Leiden ist nunmehr den Verfolgten — aber noch nicht allen — Freiheit und Rückkehr gegeben worden: ihnen allen Freiheit, Heimat und Wohnstatt wieder zu erringen, wird nach wie vor unser rastloses Bemühen sein. Wir haben unseren Volksgenossen im besetzten und im Einbruchsgebiet immer und immer wie der gelobt, daß wir die opferbereite, selbstlose Treue, die sie dem Reiche, dem Vaterlande, in so bewunderungswürdiger Weise erwiesen haben, mit gleicher Treue erwidern werden. Treue um Treue! Das soll und darf kein klingender Spruch für festliche Versammlungen sein; Treue ist nicht Wort, son dern Tat! Sie fordert von uns, daß wir die Lasten, die unser« Brüder an Rhein und Ruhr bisher fast allein getragen haben, opferwillig und im Geiste sozialer Gerechtigkeit auf die Schul tern aller Deutschen verteilen, daß wir bereit sind, schwere Bürden auf lange Jahre hinaus zu tragen, um so unsere» Volksgenossen im Westen auf dem allein möglichen Wege ihr« Menschenrechte und ihre Freiheit zu erkaufen. Nur in diesem Willen und nur für dieses Ziel können wir den Mut finden die geforderte schwere Last auf uns zu laden, von der wir nicht wissen, ob wir nicht unter ihr zusammenbrechen werden/ Der Reichsminister der besetzten Gebiete vr. Höfle gab ein Bild von dem bisherigen Gang der Londoner Ver handlungen und sagte hierbei u. a.: Zu übertriebenem Optimismus liegt kein Anlaß vor. Aber die Atmosphäre ist doch eine ganz andere, als die bei den vorangegangenen Kon- ferenzen. Wir hoffen, daß die Auffassung durchdringt, daß nur eine gründliche und allgemeine Bereinigung der Diffe renzen Aussicht hat, das Ziel der Befreiung Europas zu er- reichen. Gewiß, die Gegner machen uns Konzessionen, aber es ist klar, daß auch Konzessionen auf unserer Seite nicht zu umgehen sind. Günstige Anfänge sind gemacht. Von großer Bedeutung ist für uns die Frage der Amnestierung aller derjenigen Deutschen, die infolge ihrer Teilnahme an dem deutschen Abwehrkampf an Rhein und Ruhr in fran zösische Gefangenschaft geraten sind. Es besteht die Hoffnung dass Unsere Fooverung nach restloser Begnadigung erfüllt wird. Auch wir haben uns dafür bereit erklärt, einen Strich zu machen unter all das, was in den lchten 18 Monaten geschehen ist, und auch unsererseits sind umfassende Begnadi gungen ausgesprochen und Strafverfahren niedergeschlagen, Dabei ist allerdings von uns erklärt worden, daß wir zu cinck Begnadigung bet den Verbrechen des Hochverrats nur dann bereit sein können, wenn »ns Gewähr für die unbedingte Wiederherstellung der deutsche» Iustizhoheit im besetzten Ge biet gegeben wird, wenn die deutsche Justiz also fortan auch im besetzten Gebiet jeden Hoch, »nd Landesverrat fassen kann, ohne daß hie Besatzungsmächte ihre schützende Hand über ihn halten, Amerikas Anteil an der deutschen Anleihe. In New Yorker Finanzkreisen herrscht die Ueberzeugung, daß sich die Ausgabe der Anleihe für Deutschland nicht sa leicht wie die für Oesterreich gestalten werde. Die Schaffung einer genügenden Sicherheit sei nach wie vor die Hauptfrage. Hierher gehöre vor allein der Wunsch, daß keine der an dem Reparationsproblem beteiligten Natio nen eine böswillige Verfehlung Deutschlands feststellen könne, wenn nicht eine dahingehende Entscheidung anderer eben falls beteiligten Mächte vorliege. Wenn die Unterbringung .der Anleihe gegenwärtig überhaupt möglich sei, so liege das an der stetig zunehmenden Geldflüssigkeit. Folgende Erwägungen seien für die Zeichner der Anleihe maß gebend: erstens, daß die amerikanischen Bankiers ihre Zu stimmung zu einer gesunden Anleihe geben; zweitens, daß die Alliierten der Anleihe eine grundlegende Beden- tung bemessen und alles zu ihrer Sicherstellung unterneh men; drittens, daß eine sichere Verzinsung zu ungefähr 8Ä Prozent (d. h. nominell 8 Prozent bei einem Ausgabe- kurs von 93 Prozent) gewährt wird, und viertens der Wunsch, an der Lösung eines Problems teilzunehmen, das mehr als alle übrigen den Wiederaufbau Europas bedingt. Wie ver lautet, werden vier Fünftel der deutschen Anleihe In New York untergebracht werden. Morgan wird hundert Millionen Dollar zeichnen, Kuhn, Loeb u. Co. vierzig Millionen, Lazare Speyer zwanzig Millionen. Die Verzinsung beträgt acht Prozent, der Ausgabekurs 93. j Die Verewigung der Kontrotte. Eine ausführliche Auskunft des Vorsitzenden der Stu dienkommission des Obersten nationalen Verteidigungsrates, Paul Boneourt, an einen Vertreter des „Matin" im Zu- fammenhang mit Boncourts Berichterstattung an Herriot über die Arbeiten des Rates läßt erkennen, wie man sich in Frank reich die militärische Ueberwachung Deutschlands durch den Völkerbund denkt, und wie man Räumung oder Besetzung des Nuhrgebietes durchaus militär-politisch ansieht. Boncourt sagte, selbst wenn man die Frage der Sicherheit Frankreichs vor einem befürchteten neuen Angriffe Deutsch-, lands zu der Räumung des Nuhrgebietes durch die franzöü^ schen Truppen nicht in Beziehung setze, müsse man doch, do», vor man diese Rüstkammer Deutschlands aus der Land gebe, wissen, ob eine wirksame Ueberwachung des Nuhrgebietes auch ohne die französischen Truppen möglich sei. Daraufhin sei der vom Völkerbund auf englischen Antrag ausqcarbeitcte Vorschlag durch General Serrigny, Generalsekretär des Obersten Verteidigungsrates, und seiiv Untergebenen ein gehend geprüft, und auf Herriots Veranlassung in einer Sitzung des Studienausschusses des Verteidigungsrates in den letzten Tagen des Juli eingehend besprochen worden. An dieser Sitzung hätten der Chef des Ge n e r a l st a b s, General Debeney, ein Vertreter des Marschalls F o ch, der neue Chef des General st abs der Marine, Admiral Salaun, ferner General Du mesnil, Oberstleutnant Nequin und der Unterdirektor des Auswärtigen Amtes, Laroche, teilgenommen. General Debeney habe aus geführt, daß auch die strengste Kontrolle durch den Völker bund auf grund des vorgrlegten Planes ihm keineSicher- heit geben könnte, und damit habe er durchaus recht. An dem Entwürfe des Völkerbundes habe man in der Sitzung Veränderungen und wichtige Neufassungen vorge- nommen. Die Fristen, die zwischen der Anzeige einer Ver fehlung und ihrer Feststellung verlaufen könnten, seien aufs äußerste verkürzt worden. Die neue Kontrollkommission