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Zur Zurücknahme derAusweisungen. Das deutsche Volk hat die Zurücknahme der Ausweisungen mit Befriedigung ausgenommen, aber zu so überschweng lichen Danksagungen, wie sie in den Artikeln der demokrati- scheu und sozialdemokratischen Parteipresse zum Ausdruck ge langen, liegt kein Anlaß vor. Der sozialdemokratische Abg. Sollmann hat Las Vorgehen der französischen Demokratie sogar als Kulturtat gefeiert, als wenn die von der gallischen Kulturnation im Ruhrgebiet verübten „Kulturtoten" nicht gebieterisch vom ersten Augenblick der Besetzung au eine Re medur erfordert hätten. Wo war damals irgendein Wider- sprach bei Len Radikalen in der Pariser Kammer vernehm bar? Hat sich jemals Lie Empörung über den brutalen lieber- fall dort zu einem Antrag verdichtet? Wo in aller Welt ist es Sitte, einem Dieb die Ehren eines Wohltäters zu erweisenl Rund 130000 Beamte nebst Familien und 12 000 Privat personen waren von der Ausweisung betroffen worden, und mit Ausnahme von 75 höheren Beamten ist ihnen jetzt von Herriot die Rükehr in die Heimat gestattet worden, hoffentlich ohne daß sie dort aus der Szylla der Ausweisung in die Charybdis des Abbaues geraten. Aber eine andere Gefahr droht ihnen; daran erinnert das Schicksal jener 75 Exilierten: noch ist die Ruhr nicht frei; noch untersteht sie der Willkür herrschaft französischer Troupiers und Laren Militärjustiz, die mit Argusaugen bis zum allerletzten Augenblick der Bedrük- kungsperiode auf Posten sein wird. Es kann nicht auebleibsn, daß trötz aller Fürsorge der Regierung für die Heimgekehrten Mißhelligkeiten entstehen, namentlich wegen ihrer Unterbrin gung. Der Minister Höfle hat auf die Schaffung neuer Wohnungsmöglichkeiten durch den Abzug Les Besatzungs heeres gerechnet. Leider liegen noch keine Anzeichen dafür vor, und wenn ein großer Teil der 142 000 Ausgewiesenen französische Offiziere und deren oft recht fragwürdigen An hang in Len Behausungen antrifft, die einmal in deutscher Sauberkeit und Ordnung glänzten, wird es ziemlicher An strengung bedürfen, um Empörung und Erbitterung ange- chts dieser Wandlung zu bemeiftern. Von bureaukratischen LÄrbeugungsmaßregeln soll nmn sich nicht zu viel versprechen, hier muß der vom Reichstag zur Erledigung der Notlagen- srage eingesetzte Sonderausschuß eingreifen. Aber auch die Regierung wird plötzlich vor eine neue Aufgabe gestellt. Wäh rend Optimisten sich einbildeten, Herriot werden eine Der- söhnungsära eröffnen, nachdem er mit der Barbarei der Be amtenausweisungen aufgeräumt hatte, erfahren wir, daß er durch die Besch lagnah mederHälftedesDüssel- dorfer Negierungsgebäudes 700 deutschen Beamten den Stuhl vor die Türe setzt. Das de- deutet nach amtlicher Angabe die absolute Stillegung verschie- dener äußerst wichtiger Verwaltungszweige und ist nicht mit Vrsöhnlichkeit zusammenzureimen. Im Gegenteil. Diese jüngste „Kulturtat" fügt sich früheren sinngemäß an, als be fänden wir uns erst im Anfänge des Ruhrüberfalls, ein Vor stoß, der nicht nur das Ausland befremden wird, auch die Herriot so freigebig Lob spendenden Schwärmer werden er nüchtert sein, daß aus den Samtpfötchen des Premierministers unversehens die Krallen herausgestreckt werden. Die Ueber- raschung der Gutgläubigen wird vervollständigt durch die von der französischen Regierung verlangte und vom Reichs präsidenten nahezu ausnahmslos bewilligte Begnad i- Lung derjenigen Deutschen, die während des Ruhrkampfes mittelbar aber unmittelbar den Franzosen aktiv oder passiv Hilfe geleistet haben. Das ist eine starke Zumutung und schmeckt verzweifelt nach Bezahlung für die Zurücknahme der Ausweisung der deut schen Beamten, die doch nur ihre Pflicht gegenüber den: Vaterlande erfüllt haben, während auf der Gegenseite elende, schurkische Verräter die Wohltat einer Amnestie genießen. Das setzt Pflichttreue und Pflichtvergessene auf dieselbe Stufe und verletzt das Rechtsgefühl aufs höchste. Schließlich hat die Erpressungstaktik Ler Micum ange halten; denn sie besteht auf Ler Lieferungskohle im vollsten Umfange für den Monat Juli, obwohl Herriot in seiner Note Anweisung gegeben hat, der deutschen Industrie entgegenzu kommen; die Herabsetzung der Kohlensteuer, die Verminde rung der Ein- und Ausfuhrpakete und andere kleine Er- leichterungen fallen gegenüber der Hauptforderung von Kohle als Reparationsleistung nicht ins Gewicht. Das Er- satzkohlensyndikat steht sich genötigt, die Förderung vom 1. Juli ab um 45 Prozent einzuschränken. Alle diese Momente sind geeignet, die Kulturtat Her ¬ riots in Vie richtige Beleuchtung zu rücken. Sein „Lam- - sprechcr" alias Funker war durch unangenehme Nebenge- l rausche,He wir angemerkt haben, gestört. Sollten sie von ' den in der Dunkelkammer der GcheimLiplomatie in-Chequers gefaßten Beschlüssen hoc-rühren? Nicht allein Lloyd Georae' hat sich darüber aufgehalten, daß Lie Frucht der Besprechung gen zwischen Herriot und AtacDonald so ängstlich vor Ler Oesfentlichkeit verborgen gehalten wird. Ein Üeberblick über die wirkliche Lage ist uns verwehrt. Wir wissen nur, daß Frankreich, gewissermaßen zur Abkühlung bei hochgespannten Wünschen, keine Milderung der Ruhrbesetzung hat eintreten lassen, sondern sie verschärft hat, und die Geheimnistuerei MacDonalds erweckt die Befürchtung, daß politische Zette lungen vorbereitet werden, die das Licht zu scheuen haben, und die Zurücknahme Ler Ausweisungen nur als „apLritlk" verabreicht wurde, um das auf die Londoner Konferenztafel aufgetifchte Gericht verdaulicher zu machen. Deutschland hat schon so viel Enttäuschungen hi »nehmen müssen, LaßdieErinnerngandieDanaer, die zu fürchtensind, wennsieGeschenkebringen, am Platze ist. 6. I'. Deutschland beugt sich der Generalkontrolle. Die Antwort Ler Reichsregierung in Paris Lberraichb — Verwahrungen und Erwartungen. Der deutsche Botschafter in Paris hat am Montag Lem - Präsidenten der Botschafterkonferenz, Ministerpräsident Herriot, die Antwort auf die Militärkontrolle über- reicht. Nach einigen einleitenden Worten stellt die Note fest, daß es eine irrige Auffassung sei, wenn in den alliierten Ländern geglaubt werde, daß in Europa neue bewaffnete Konflikte zu befürchten seien von der zunehmenden Aktivität deutscher Organisationen, die mehr oder weniger offen mili tärische Vorbereitungen träfen. Die deutsche Regierung kann und will nicht in Abrede stellen, daß sich in Deutschland zahl reiche Organisationen befinden, die sich die körperliche Ertüchtigung der deutschen Jugend zur Auf gabe setzen. Diese Organisationen gehen aber bei ihren Be strebungen von dem Gedanken aus, daß die frühere all gemeine Wehrpflicht nicht nur einen militärischen, sondern auch einen hervorragenden erzieherischen Charakter hatte. Diese sportlichen und turnerischen Vereinigungen der deutschen Jugend irgend wie in Verbindung zu bringen mit militärischen Vorbereitun gen Deutschlands, ist daher n i ch t b e r e ch t i g t. Damit wird der Geist der hier geübten Erziehung, der der Geist jeder ge sunden Nation sein muß, völlig verkannt. Das deut sche Volk lehnt den Gesunken an Krieg ab, und unter allen politischen Faktoren besteht Einigkeit darüber, daß eine heim liche Waffenrüstung als ebenso unmöglich wie nutzlos und gefährlich abzulehnen ist. Dabei will die deutsche Negierung aber nicht verhehlen, daß im deutschen Volke eine tiefgehende Erbitterung über die gegenwärtige Lage Deutschlands herrscht, eine Er bitterung, die sich in Protesten und Demonstrationen Luft macht. Diese Entwicklung der deutschen öffentlichen Meinung kann niemanden überraschen, der sich vor Augen hält, was Deutschland in den Jahren nach den, Kriege hat erdulden müssen. Das deutsche Volk hat die Empfindung, daß man ihm gegenüber jede Rücksicht auf seine wirtschaftlichen Fähigkeiten, vor allem aber jedeRücksicht auf sein berechtigtes Selbstgefühl hat vermissen lassen. Im übrigen glaubt die deutsche Regierung die Tatsache feststellen zu können, daß es keinen ernsthaften Militär in der ganzen Welt gibt, der die Meinung haben könnte, daß Deutsch land, selbst wenn es wollte, irgendwie imstande wäre, in Europa bewaffnete Konflikte hervorzurufen. Deutschlands technische Mittel, die materielle Stärke seiner Armee, sind geringer als die jenigen auch nur kleiner Staaten. Es ist überhaupt in einen Zustand der Waffe nlosigkeit versetzt, der ohnegleichen in der Geschichte der Völker dasteht. Das deutsche Volk kann es deshalb schlechterdings nicht verstehen, daß man von diesem Deutschland eine Bedrohung des europäischen Friedens be fürchtet und derartiae Befürchtungen nicht vielmehr an die ? Tatsache knüpft, daß Ler GedankeLer allgemeinen ! Abrüstung bei den anderen Nationen bisher keine - nennenswerten Fortschritte gemacht hat. Die öffentliche - Meinung in Deutschland lehnt sich gegen eine erneute Kontrolle seitens der Interalliierten Militärkontrollkommission deshalb auf, weil diese Kontrolle ihr stündig einen Ein griffin die Reich Souveränität vor Augen führt, der an sich schon etwas ganz besonders Verletzendes hat und der ihr überdies im Vertrags von Versailles heute nicht mehr begründet erscheint. Die deutsche Regierung mußte früher unter dem Eindruck ! stehen, daß die alliierten Negierungen die Militärkontrollc Deutschlands zu einer dauernden machen wollten. Denn gegenüber hat die Note der Botschafterkonferenz vom 28. Mai den Gedanken der Einsetzung eines Garantiekomitees ' an Stelle der Militärkontrollkommission fallen lassen . und die geforderte Generalinspektion des Ergebnisses der Durchführung der befristeten Vertragsbestimmungen aus drücklich als den Schlußakt der Interalliierten Militärkontrolle gezeichnet. In dem gemeinsamen Schreiben Eurer Exzellent und des Königlich Großbritannischen Herrn Ministerpräsi denten ist dies erneut zum Ausdruck gekommen. Die Zurück ziehung der Kontrollkommission wird hier für einen mög- lichst nahen Zeitpunkt in Aussicht gestellt, und es wird der lebhafte Wunsch ausgesprochen, die interalliierte Kontrolle durch das im Artikel 213 des Versailler Vertrages dem Völkerbund übertragene Untersuchungsrecht ersetzt zu sehen. Darüber hinaus glaubt die deutsche Re gierung wahr nehmen zu können, daß die gegen wärtige allgemeine Lage durch das Bestreben gekennzeichnet ist, an die Stelle einer Politik, die deutscherseits als Gewalt politik bepämpft werden mußte, eine Politik der Verständigung zu setzen, eine Politik, die zugleich mit der Lösung der Repa rationsfrage auch die Beendigung aller Kampf methoden umfaßt, die bisher zur Erzwingung dieser Lösung angewandt wurden. In dem Vertrauen darauf, dass diese Auffassung von den alliierten Regierungen geteilt wird, und unter Fest stellung der ausdrücklichen Erklärung der alliierten Re gierungen, dass es sich bei der geforderten General- inspektion UM den Abschluss der interalliierten Militär- kontrolle und um den Uebcrgang zu dem in Artikel 213 des Vertrages vorgesehenen Verfahren handeln soll, ist die deutsche Negierung bereit, die Generalinfpek- tron zuzulasfen. Sie ist sich bewusst, dass sie dem deutschen Volke damit eine ausserordentliche seelisch« Belastung zumntet. Sie seht deshalb voraus, dass über die Modalitäten der Durchführung der General- inspektton zwischen den alliierten Regierungen und der deutschen Negierung eine Verständigung gefunden wird, die es ermöglicht, die Kontrolle in einer Weise durch,»», führen, die bereits von dem Geist erfüllt ist, der die Be ziehungen der Völker in Zunkunst regeln soll, dem Geist« der Achtung und des vertrauensvollen Zusammen wirkens, ohne den eine wirkliche Befriedigung dieser Be ziehungen undenkbar ist. Die deutsche Regierung darf ferner der Erwartung Ausdruck geben, dass die Inter alliierte Militärkontrollkommission die Generalinspek tion mit allen Mitteln beschleunigt. Die genaue Kennt nis aller einschlägigen Verhältnisse wird es den seit Jahren cingearbeiteten Mitgliedern der Kommifsio« zlveifellos ermöglichen, die Kontrolle in kürzester Zeit zu Ende zu bringen; die deutsche Regierung bittet daher, als Schlusstermin für die Generalinspektion den 3 0. September zu bestimmen. Traurig aber wahr. FürstvonPleß, der größte Gundbesitzer Oberschle siens, ist, wie der „Pester Lloyd" mitteilt, vom polnischen Staatspräsidenten empfangen worden, dem er sich mit dem von ihm angenommenen neuen Namen Für st Pszczype vorstellte. Fürst Pleß, der einer uradligen schlesischen Familie ent stammt, ist Pole geworden, um dem Liquidationsverfahren zu entgehen. Während des Krieges war das deut sche Hauptquartier eine zeitlang in seinem Sckloß Bleß u n t e r c> e b r a ck t.