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Oie französische Krisis. Die durch die Wahlen in Frankreich und Deutschland gekennzeichnete Duplizität der Ereignisse scheint sich in Parallelerscheinungen fortzusehen: diesseits und jenseits des Rheins Ministerkrisen, die nicht gerade stürmisch verlaufen, nur daß diese in Paris, genau genommen, erst mit dem am 1. Juni erfolgenden Rücktritt Poincares beginnt und in der Zwischenpause in aller Ruhe der Schriftwechsel mit neuen Männern vorgenommen werden kann. Wenn nicht alles trügt, wird der Staatspräsident Millerand den Oberbürger meister von Lyon, Herriot, als Wortführer der neuen Linksmehrheit mit der Feststellung der Ministerliste beauf tragen, und die Sozialdemokraten werden ihm ihre.w o hl- wollende Neutralität nicht versagen. Diese Wahr scheinlichkeit wird indessen einigermaßen durch das Dazwischen- schiebsn der Kandidatur Painlevös gestört. Dieser hervorragende Repräsentant des Linksblocks, als Ministerpräsident 1917 gestürzt, bekannt als Gegner Clemenceaus, ist plötzlich als Mitbewerber um das Amt des Kammerpräsidenten aufgetaucht, nachdem er von anderer Seite als Ministerpräsident vorgeschlagen war. Aber Herriot darf, wie man aus seiner Besprechung mit dem einfluß reichen Präsidenten des Senats Doumergue entnehmen will, auf die Unterstützung der Linken rechnen und scheint sie sich auch insofern auf der Rechten im Punkte der Außenpolitik ge sichert zu haben, als er angeblich in Poincares Fußtapfen zu treten zugesagt hat. Was davon Wahres ist, wird die Zukunft lehren, und wenn er sich den Ratschlägen seines Vorgängers anbequemen sollte, haben wir nichts Gutes zu erwarten, besonders wenn er, wie es heißt, einen ruffen freundlichen Kurs einschlagen und neue Anknüpfungen mit Sowjetrußland sichern will. Schon 1922 hat er auf einer Reise nach Moskau nach dieser Richtung hin gewirkt, und jetzt ist ihm Grlegenheit gegeben, den Faden wieder auf zunehmen, da die Russen nach ihrem Abfall in der Londoner Konferenz durch Verstärkung ihrer Handelsbeziehungen zu Frankreich Entgegenkommen zeigen Wenn Painlevö Kam merpräsident werden sollte, findet er in ihm einen will fährigen Bundesgenossen. Dabei ist allerdings anzumerken, daß Stimmen auf der Linken laut werden, die keineswegs für eine Bevormundung ihrer Politik im Sinne Poincares zu haben sind, sondern die Konsequenzen aus dem Wahl ergebnis ziehen wollen. Daß der abtretende Premierminister seinen Nachfolger ebenso wie den englischen Premier beeinflussen möchte, ist unverkennbar. Er läßt verbreiten, seine Sanktionspolitik Perde von Herriot fortgeführt werden, und sein letzter Brief an MacDonald verrät gleichfalls, daß er noch immer nicht der angenehmen Beschäftigung des Drahtziehens hinter den Kulissen entsagt hat. Das kann er um so ungehinderter tun, als ihm in der Person des Staatspräsidenten Millerand eins Rückendeckung gegeben ist. ' An diesem Punkte hat die Opposition eingesetzt. Diesel! Präsident war den Radikalen von jeher ein Dorn im Auge, seit er, der Pariser Typ des Kleinbürgers, sich dem Marxis mus verschrieb, um ihn als Abtrünniger zu verraten. Das geschah, als ihn Waldeck-Rousseau mit dem Handels ministerium betraute. Damals war der Marquis de Gallifet, dec Vernichter der Pariser Kommune, Mitglied des Kabinetts, und das Witzblatt „Le Rive" stellte damals Waldeck- Rousseau als Maire dar, der die Ehe des keuschen, als Braut im Schleier auftretenden Millerand mit dem „bril lanten" Marquis im Namen des Gesetzes vollzog. Das war Mitte 1899. Seitdem hat der ehemalige Advokat als Minister des Handels, der Oeffentlichen Arbeiten, des Krieges gewirkt, wurde Anfang 1920 Ministerpräsident und übernahm im September desselben Jahres die Präsidentschaft der fran zösischen Republik. Diese Wandlungsfähigkeit könnte erwarten lassen, daß er sich den Wünschen der Opposition von heute fügen würde. Aber man mißtraut ihm und über Nacht wird an seinem Präsidentenstuhl gerüttelt. Dis Sozia Demokraten vergeben ihm niemals die Mariage mit GaUisc! und da sie ausschlaggebend für die Entwicklung der ! Politik n Lage sind, benutzen sie die Gunst degEAugenblicks, : um den Verhaßten endlich zu stürzen. Er soll den Elysee- Palast räumen, und zwar um Painlevö Platz zu machen. Die Ernte ist schnittreif, und die Beschlüsse der radikal- sozialistischen, republikanisch-sozialistischen und sozialistischen Parteien sowie ihrer Presse lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: „Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufenl" Dem Mantel Poincares soll der Herzog in Gestalt Millerands nachfolgen. Man gibt seiner Politik nicht nur Schuld an der Krisis des Franken, sondern erinnert auch an sein Ver halten in Cannes, wo er die von Briand geführten Ver handlungen zum Scheitern brachte, und man würde es, wie ein französischer Journalist hervorhebt, nicht verstehen, „wenn nach derartigen Erfahrungen sich ein Ministerpräsident dazu herbeiließe, unter ständigen Drohungen". Angriffe von dieser Schärfe sind ernst zu nehmen; sie drücken in diesem Falle die Meinung einer Mehrheit aus, die aufs Ganze zu gehen beabsichtigt und durch die Wahl Painlevös Verständnis für Möglichkeiten bekundet. Wird er am 3. Juni zum Kammerpräsidenten gewählt, so ist damit ein Sprungbrett für ihn geschaffen und die Atmosphäre ge reinigt. Es wäre ungereimt, einen Poincarö zu beseitigen und seinen Generalissimus weiterhin zu dulden. Wir werden bald erfahren, ob der von links wehende Wind sich zu einem Millerand füllenden Sturm steigert. L. LI, Die neuen Beamisnqehülissahs. Die neuen Gehaltssätze für die Beamten, deren Herauf setzung wir bereits meldeten, belaufen sich f ii r d i e e i n Z e l - nen Gruppen auf folgende Summen: Gruppe I: 804—1068 Goldmark II: 876—1176 „ III: 960—1284 „ IV: 1104—1476 „ V: 1296—1728 „ VI: 1596—2280 VII: 2100—3120 „ VIII: 2400—3600 „ IX: 2820—4110 X: 3600—5400 XI: 4200—6300 „ XII: 4860—7200 „ XIII: 6300—9600 „ Einzelgehälter: 1. 10 500 Goldmark . 2. 12 000 3. 13 500 4. 14 400 5. 18 000 // 6. 27 000 7. 30 000 Kinderzulagen 16,18, 20 Mar! monatlich. Frauenzulagen 10 Mark monatlich. Der besonders örtliche Zuschlag ist für den Westen von 22 auf 15 Prozent, für Hamburg, Berlin auf 5 Prozent herabgesetzt, Herriot will die RuhrSesehung nur „lockern". Der Pariser Korrespondent der Times hatte eine Unter redung mit Herriot in Lyon. Herriot sagte, das neue Kabinett würde vor dem 5. Juni nicht beisammen sein. Wenn er zur Macht käme, würde er kein Mitleid mit der Opposition haben, die jetzt wieder den Sturz des Franken herbeigeführt habe, weil sie wisse, daß solch ein Sturz immer die Lage der Demokratie verschlimmere. Herriot schloß mit den Worten: „Mit welchen Männern ich auch zu tun haben möge und welchen Ländern sie auch angehören mögen, ich werde doch immer denselben guten Willen von ihnen verlangen, den ich selbst ihnen entgegenbringe. Ich betone meine Absicht, die Rechte ni eines Lan des energisch zu verteidige n." In einer Unterredung mit dem Vertreter der deutsch, feindlichen Daily Mail soll Hernot oesaqt baben, er hoffe kn zwei bis drei Wochen nach England zu kom men. „Sobald ich die Ministerprüsidcntschaft übernommen haben werde, werde ich Ramsey McDonald meinen Besuch machen. Was die Reparationsfcage und das Gutachten der Sachverständigen angeht, so werde ich.in alle Versprechungen der deutschen Regierung keineswegs blindes Vertrauen haben. Dis Nuhrbesetzung wird nur insoweit ge lockert, als es notwendig ist, Deutschland die notwendigen wirtschaftlichen Kräfte zu geben, um die B e z a h l u n a sei ner Neparationsschulden aufnchmen zu können. Daraus dürfe aber nicht gefolgert werden, daß man einem widerstrebenden Schuldner auch noch die Werkzeugs aushän digen wolle, um sich seinen Verpflichtungen zu entziehen. ReparEonspfüchk und Kriegs^ fchuldlüge. - Der bekannte englische Volkswirtschaftler Prof. Keynes, der zu den ersten lebenden Kennern der Finanz politik zählt, hat dem Sachverständigen-Eutachten in einem deutschen Blatt (Hamburger „Wirtschaftsdienst") eine Kritik zu teil werden lassen, die, bei aller Anerkennung der geleisteten tüchtigen Arbeit, an Bosheit gegenüber den völlig verfahrenen politischen und wirtschaftlichen Zu ständen im heutigen Europa nichts zu wünschen übrig läßt. Keynes nennt das Dawes-Eutachten den „bisher 'besten Beitrag zu einem unmöglichen Problem". Er meint hierzu; „Er schasst eine Atmosphäre der Unparteilichkeit und verrät wissenschaftliche Durcharbeitung und tiefe Kenntniyc. Obgleich die Sprache manchmal der Sprache eines gesunden Menschen vergleichbar scheint, der im Irrenhaus (!) sich selbst den Insassen anpassen (!) muß, verliert sie dennoch niemals ihren vernünftigen Sinn. Obwohl der Bericht manchmal mit dem Unmöglichen ein Kompromiß schließt und sogar Unmögliches in Erwägung steht (!), schreibt er doch niemals das Unmögliche vor. Diese Fassade und diese Pläne werden vielleicht nie Gestalt gewinnen in einem wirklich errichteten Gebäude (!). Und doch ist der Be richt ein ehrenvolles Dokument und eröffnet ein neues Kapitel." Das ist vielleicht die vernichtendste Kritik, die eine sach kundige und objektive Autorität ersten Ranges üben konnte, nicht etwa am Bericht selbst, dem volle An erkennung widerfährt, sondern an dem Milieu, aus dem dieser Bericht hervorgegangen ist. Die Lösung der Repa rationsfrage selbst wird als vortrefflich bezeichnet, aber die Grundlage des Neparationsproblems, die moralische wie die wirtschaftliche, wird als aus der Atmosphäre des „Irrevhauses" entsprungen gebrandmarkt. Daraus ergibt sich für die neue deutsche Negierung ein überaus wertvoller Wink: wir müssen zugleich mit der Erörterung der Ncparationsangelcgenheit, der wir uns nicht entziehen dürfen, wenn mir nicht der Welt als Störenfriede er scheinen und Poincarö den größten Gefallen erweisen wollen, eine wuchtige Offensive auf breitester Front gegen die Grundlage der Neparationspflicht, die Kricgs- schuldlügc, unternehmen, mit der das ganze Problem steht und fällt. Das ist jetzt die vornehmste und wichtigste außenpolitische Pflicht der neuen Negierung. Berliner Reise des Fürsten Bülow. Die Epoca glaub! zu wissen, daß Fürst Bülow demnächst nach Berlin reisen werde, nm mit der Reichsregierung und seinen Freunden Besprechungen abzuhalten. Diese Reise stünde in Verbindung mit dem Wunsche gewisser deutscher Kreise, daf Fürst Bülow entweder Reichspräsident oder Reichskanzler werden soll Erfurt Garnison. Dom Neichswirtschaftsministerium iss dem Magistrat Erfurt mitgeteilt worden, daß der Reichs präsident die Verlegung des Reiterregiments Nr. 16 nach Erfurt genehmigt hat. Damit ist Erfurt Garnisonstadl geworden. Schacht-Märchen. Nach Londoner Meldungen soll die Bank von England von dem Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht ein Telegramm erhalten haben, in dem mit geteilt werde, die Deutsche Regierung habe Befehl gegeben, denjenigen Großindustriellen, die die nationalistische Wahl kampagne gegen den Dawes-Bericht unterstützt hätten, alle Staatskrcdste zu entziehen. Diese Meldungen sind wie uns