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D s Türkei aus der Schwelle her Neuzeit. Die Abschaffung des islamitischen Kalifats, das gemäß Artikel lll der osmanischen Verfassung mit der Herrschecwürde vereinigt war, ist von der Nationalversammlung in Angora beschlossen worden. Die republikanisch gewordenen Iung- türken machen ganze Arbeit: der Kalif wird dem Sultan nachgeworfcn, der am 1. November 1923 des Thrones ver lustig erklärt worden war von derselben Versammlung. Aus welchen Gründen die ttirktiche Regierung sich zu diesem Schritt entschlossen hat, ist noch nicht ersichtlich, denn er ist in poli. tischer und wahrscheinlich auch in religiöser Hinsicht bedeutungsvoll. Die Einrichtung des Kalifats, das die weltliche und geist. liche Führung des Islams in sich schließt, istsoaltwieder Mohammedanismu», und die Nachfolger des Pro pheten waren sich wohl bewußt, welchen Einfluß der Träger des Kalifatsütels in der islamitischen Welt besaß. Es hat in den verschiedensten Ländern Kalifen gegeben, bis die Bezeichnung schließlich nahezu unbeschränkt den osmani- schen Sultanen verb'ieb. Bis in den fernsten Osten und in das dunkelste Afrika hinein dursten sie, im Scheinbesitz von Mekka und Medina, die Schützer des Glaubens spielen, begünstigt durch den Umstand, daß eigentliche Religionskriege zwischen christlichen und mohammedanischen Nationen, wenn man von me im Balkan ruhenden Scharmützeln absieht, über haupt während des letzten Jahrhunderts nicht vorgekommen sind. Die Kämpfe im Sudan gegen den Mahdi, die Senussi- unruhcn behielt ihren lokalen Charakter und bewiesen nur, wie vergeblich ein Appell an die Panislamismus ist, Das Entfalten der grünen Fahne des Propheten, der Aufruf zum Heiligen Krieg haben im Zeitalter der Maschinengewehre und des Flugzeugs ihren Schrecken verloren, und Mustafa Kemal Pascha scheint in der Stärkung eines fanatischen National- bemußtleins einen sicherem Schutz für die Türkei zu erblicken, als in der Wiederbelebung eines Kalifats, dem seins natür liche Hüstle, der weltliche Herrscher, fehlt. Wenn die Reform- türken die Religion nicht antasten und die Aufklärung des Volkes in abendländischem Sinne der Schule überlasten, wird der Hodscha, der Lehrer, im Laufe der Zeit mit dem nur auf den Koran eingeschworenen Ulema fertig werden, wenn dieser auch setzt die Abschaffung des Kalifats als Glaubensunter drückung verschreien mag. Der neue Staat will in dieNeihe der modernen Staaten treten und entkleidet sich zu dreiem Zwecke der dem Islam innewohnenden Internafiona- sttät, die ihm außenpolitische Verwickelungen zuziehen könnte. Daß diese Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist. zeigt die Unzufriedenheit der englischen Presse mit dieser Wendung. England Hai längst schon mit der Schakiung eines besonderen, als Konkurrenz gedachten Hedschahskalifats gelieb- äugelt. Jetzt iss d e Bahn daiiir frei für den König Hussein; nur der Gegenspieler am Goldenen Horn fehlt und damit zu gleich tue Stelle, wo die englische Diplomatie zu gelegener Zeit einhaken könnte, um sich in die inneren Verhältnisse der Türkei emzumUcben, und es wird England schwer fallen, diese nur die Angoratürken angehende Frage auf den Leisten der internationalen Politik zu schlagen; es müßte denn sein, daß die außentürkischen Bekenner des Islams Unruhen gegen die K emalisten Hervorrufen. Das wäre zu verstehen. Der Verzicht auf die mit dem Kalifat verbundene kirchliche Machtfülle bedeutet zugleich die Vernichtung einer durch viele Jahrhunderte geheiligten Tradition, und vor allem die unter englischer Oberherrschaft stehenden Moslems werden den Verlust ihres geistlichen Ober hauptes schmerzlich empfinden und Einspruch gegen die ra dikale Maßnahme erheben. Das wird wohl auch in anderen von Mohammedanern bevölkerten Landstrichen der Fall sein, nur wird sich der lehr selbstbewußt auftretende junge Natio nalstaat nicht weiter anfechten lassen; denn der von ihm gewählte Präsident kann neben sich keinen äußeren Beeinflus sungen ausgesetzten Machtfaktor dulden und wird einwenden, daß z. B. England dem Plane eines arabischen Kalifats wohl- wollend gegenübergestanden habe und die Kalifenwürde an die Person eines jetzt beseitigten Sultans gebunden sei. Es kann auch "uf die Gefahr hin gewiesen werden, die darin l-ierst dr>k Grbeich ül Islam, als Vertreter der Kirchen- gewalt, den Sultan, im vorliegenden Falle den Präsidenten, absetzen kann, was mehrfach geschehen, ist. Dem ist mit der Aufhebung des Kalifats vorgebeugt. Eigentlich müßte die englische Diplomatie diese Wendung begrüßen: denn sie ver leiht ihr Ellbogenfreiheit und kann als Zeichen dafür gelten daß die Angoraregierung endgültig jedem religiösen Einfluß auf Indien entsagen will. Dieser Standpunkt erscheint eine bessere Lösung als die Beibehaltung einer Einrichtung, die, wie in Japan, auf ein geistliches Schattenkönigtum hinaus- läust. Noch läßt sich nicht die wahre Meinung Englands über dielen überraschenden Vorstoß erkennen, aber Deutschland, das soeben mit dec Türkei einen Freundschaftsvertrag abge schlossen hat, dürste keinen Anlaß hab-rn. sich in diese mner- tiirkische Wandlung der Dinge einzumischen. dl. 0. Oie Vertreibung des Kalifen. Flucht nach Aegypten — oder nach der Schweiz? Ctaatsgeiährliche Gespräche. Aus Konstantinopel wird gemeldet, dass der Kalif, begleitet von zwei Frauen, seinem Sohu, seiner Tochter, zwei weiblichen Dienerinnen und zwei Eunuchen, am Dienstag in einem Sonderzuge von Konstantinopel ab gereist ist, um sich n ach A e gyPten zu begeben. - / » Die über die Absetzung des Kalifen vorliegenden Mel dungen stammen zum größten Teil aus englischen Quellen In Konstantinopel und ergeben ungefähr folgendes Bild: Noch in der Nacht begab sich der Gouverneur von Kon stantinopel zum Kalifen, um ihm den Entschluß der National versammlung in Angora mitzuteilen, daß er ad gesetzt und verbannt sei. Begleitet vom Generaldirektor der türkischen Polizei, bat der Gouverneur den Kalifen, seinen Thron zu besteigen, um sich das neue Gesetz vorlesen zu lassen. Nachdem dies geschehen, wurde der Kalif veranlaßt, seinen Thron wieder zu verlassen und' in aller Eile seine Abreise vorzu bereiten. Um 2 Uhr nachts verließ der Kalif das Palais und fuhr dann in einem bereitgcstellten Sonderzug ab, nach einer Meldung nach der Schweiz, nach einer anderen nach Kairo., Wie verlautet, war dis entscheidende Sitzung der Nationalversammlung über di« Absetzung des Kalifen sehr stürmisch. Mehrere Abgeordnete protestierten gegen die Verbannung, weil es große Gefahren für die Türkei in sich schlösse, wenn der Kalif im Ausland weile. Mustapha Kemal suchte auf offiziösem Wege die Härten des Gesetzes adzunuldern und schlug vor, daß es zum Beispiel keine Anwendung finden solle auf türkische Prin zessinnen, welche Türken geheiratet hätten, die nicht Mit- glirder des kaiserlichen Hauses wären. Aber selbst diese Vorschläge wurden verworfen. Das Gesetz über Landesver rat wurde noch durch einige Sonderklauseln ver schärft, die besagen, daß selbst Gespräche über den Versuch einer Wiedereinführung de» Ka- lifat» strafbar seien. Vermehrung -er britischen Luftflotte. Wettrüsten zur Luft? Die Frage der britischen Luftverteidigung wurde im englischen Oberhaus« von dem Konservativen London derry von neuem besprochen. Vr stellte den Antrag, das Haus möge im drinzip die Vorschläge anerkennen, die von der Reichskonferenz angenommen wurden, nämlich dass Grohbritannie». eine Luftwaffe von graLgend;-- Stärke haben müsse, um einen ausreichende« Schuh gegen einer: Lustangriff seitens der stärksten Lust macht zu besitzen. Londonderry er klärte, der Antrag seinichtalsein Angriffgegev die Negierung gemeint. Der Antrag Londonderrys wurde a n g e n o m m e n Kein Konflikt zwischen Schacht und -en Sachverständigen. Line englische Fal-schmetdung. Entgegen einer Sensationsmeldung der „Daily Mail", wonach ein Konflikt mit dem Reichs bankpräsidenten Or. Schacht und dem Sachverständigen- komitee in Paris über die Frage einer Finanzkontrolle für Deutschland ausgeKrochn sein soll, hören wir von unter- richlcrer Seite, daßeinsolcherKonflitt nicht vor liegt. vr. Schacht war am Dienstag bereits nicht mehr in Paris anwesend, und seine Auffassung von dem Fortgang der Verhandlungen liegt jedenfalls nicht in der von der »Daily Mail" gekennzeichneten Richtung. Die sachlichen fragen »wer me ^«.anzreyung oer sre 1 cy » «i > e n - bahnen als Pfand für ein«-ausländische Anleihe bzw. über den Anteil, den das Ausland dann in der Verwaltung der Eisenbahnen und ihrer Finanzen einnehmen könnte, sind noch nicht abgeschlossen. Der Bericht der Sachverständigen wird nunmehr für den LO. März erwartet. Oie Orrsljfotde»ung del Dentschpöttifche^ lieber den Vorfall, der, wie gemeldet, zur HerLitsfor- derung Or. Cremers Anlaß gab, erklärt ein deutsch völkischer Abgeordneter dein „Tag": „Als Or. Cremer den Ausruf „Hochverräter" getan hatte, ging Abg. Wulle auf ihn zu und fragte, was er gerufen habe. Hierauf antwortete der Gefragte: „H o ch v err ater's st d Ihrl" Auf dreie Be- leidigung blieb uns drei deutsch-völkischen Abgeordneten nur übrig, den Beleidiger vor die Waffe zu fordern, zumal t>. Cremer ja früher Hauptmann d. R. war. Er lehnte jedoch die Annahme der Forderung ab und erklärte dem Kartell träger, darüber sei er hinaus. Uebrigsns könne er im Reichstage sagen, was ihm beliebe, denn dort genieße er Immunität. Er werde jedoch die Beleidigung außer- halb des Reichstags wiederholen, damit er verklagt werden könne. Der Ehrenkodex käme für ihn nicht in Frage, zumal er weder einem militärischen noch einem studentischen Verband an gehöre." BsSeiiszeiLumuhen m Ludwigshafen. Am Mittwoch morgen l)aben sämtliche Arbeiter des Lud wigshafener Werkes der Badiichen Anilin- und Sodafabrik die Arbeitsstätte verlassen und sind zu einer Versammlung nach dem iog. Holzhoi gezogen. Die Vcriammluno wurde durch die Funktionäre des „Industriebundes der Chemie", einer von syndikalistischen Elementen gebildeten gewerkschafts- scindlichen Sonderaruvve. geleitet, die sich in äußerst scharfen Ausdrücken gegen die neunstündige ?! rbeitsze t wandte. Unter Absingen der Marseillaise and Hochrufen auf die Räterepublik zogen dann Sie Arbeiter in den Fabrikhof, wo eine weitere Versamm lung mit Hetzreden abgehackten wurde. Gegen 212 Uhr rückten die Arbeiter gegen das Fabrikgebäude vor, schlugen die Sperren am Eingangstor zusammen und dranoen in das Gebäude ein, wobei ein Beamter mißhandelt wurde. Ueber di« wetteren Vorgänge fehlen bisher Einzelheiten. Erhöhte Kampftätigkeit in Marokko. P-rluste der Spanier. Die neuesten Meldungen über die Lage in Marokko wir ken in Madrid überaus verstimmend. Di« aufständischen Ma rokkaner im Kiistengeb'et sind wieder lehr kampflustig geworden und erschweren die Verproviantierung der spanischen Vor posten. Bei Angriffen der Rifrebellen auf Schutzkolonnen der Proviantzüge wurden auf spanischer Sette 23 Mann v - *.