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Mittwoch. Nr. 304 3». December 1857. Leipzig Die Zeitung erscheint mit Ausnahme des Sonntag» täglich Nachmit tag« für den folgenden Tag. PreiS für da« Vierteljahr 1'/, Thlr.; jede einzelne Nummer 2 Ngr. Mutsche Allgemeine Zeitung. . Wahrheit und Recht, Freiheit und Gisch!» Zu beziehen durch alle Postämter des In- und Auslandes, sowie durch die Erpedüiou i» Leipzig (Querstraße Nr. 8). JnsertionSgebühr für den Raum ciucr Zeile 2 Ngr. Oesterreichs wichtigste Errungenschaft. Aus Oesterreich, 27. Dec. Das ablaufcnde Decennium ist für Oesterreich eine Epoche von eingreifenden Reformen gewesen, welche in der Kulturgeschichte nicht blos des Kaiserstaats, sondern Europas einen ewig glänzenden Ehrenplatz einnehmen werden. Dennoch sind diese an sich hoch wichtigen Reformen zunächst nicht das höchste Gut, mit welchem Oesterreich aus den letzten schweren und gefahrvollen Jahren einer bessern Zukunft ent- gcgengeht. Sie sind cs schon deshalb nicht, weil sie von den Trübungen nicht frei sein können, welche einen reformatorischen Zustand immer und überall begleiten. Die Reformen konnten noch nicht durchaus lebendige Wurzeln schlagen, sie sind noch nicht vollständig begriffen und daher noch weniger allgemein vom Volke selbständig so benutzt, daß sie ihren vollen Segen cnfalten könnten. Solche Nadicalreformen stören ferner immer und überall manche alte süße Gewohnheit, sie machen der trägen Bequemlichkeit durch schmerzliche Aufstachelung ein Ende, sie verletzen auch vielerlei wirk liche Interessen, da es nicht zu vermeiden ist, daß Diejenigen, welche in einem Reformzeitaltcr leben, in vielen Beziehungen sich für die Nachkom- men opfern müssen. Alle diese unvermeidlichen Ucbelstände sind bei der noch jungen Neugestaltung Oesterreichs natürlich noch stark im Vorder gründe; daher sind die egoistischen Lobredner des Alten unzufrieden, kurz sichtige und ängstliche Geister schweben in Besorgnissen, die Gegner Oester reichs nehmen daraus Anlaß zu abfälligem Urthcil, zu Unglücksprophezciungen. Ein politisches Gut aber, und zwar das höchste zunächst nothwendige, hat Oesterreich unter allgemeiner Anerkennung der Freunde und Gegner in weitem Umfang, in hohem Grade und mit lebenskräftiger organischer Begründung errungen. Diese wichtigste Errungenschaft besteht in der Weckung und Kräftigung des allgemeinen Neichsbürgerbcwußtseins, des erüig österreichischen politischen Nationalgefühls. Ein solches zu beleben, beziehungsweise selbst erst zu schaffen, war die dringendste Aufgabe Oester reichs von dem Augenblick an, als es ein für sich selbständiges Kaiserthum wurde. Die Aufgabe erschien so schwierig, daß Freunde und Feinde an der Lösung zweifelten. Man hielt cs für geradezu unmöglich, so viele in Charakter und historischer Erinnerung sich widerstrebende Nationalitäten zu einer politischen Nation zu vereinigen. Diese Unmöglichkeit wurde umso mehr zum Dogma der politischen Welt, je weniger unter dem allen Sy stem geschah, um die Möglichkeit thatsächlich zu beweisen. Es herrschten damals Principien vor, welche in der That mehr die Verewigung der fac- tischen Trennung als die Herbeiführung der nothwendigen Einigung zu beabsichtigen schienen. Die Weltgeschichte hatte freilich seit Jahrhunderten Oesterreich stets als einige individuelle Reichsgröße aufgefaßl; in Oester reich selbst aber stand der provinziale Separatismus in vollster Blüte und wurde von der durch das Mislingcn der Josephinischen Plane eingcschüch- terten Regierung sorgfältig gehegt. Nur für den fremden Historiker und Politiker hatte der Name Oesterreicher eine nationale Bedeutung; in Oester reich selbst war er in so hohem Grade eine bloße Fiction, daß selbst die eigentlichen Oesterrcichcr, d. i. die Bewohner des Erzherzogthums, cs nie versäumten, durch Vorsetzung eines „Ober" und „Unter" ihre specisischc Nationalität zu documentiren. Es war nicht schwer vorauszuschen, daß dieser Zustand sich zum Ex trem entwickeln und zu einer Katastrophe führen werde. Dies geschah im Jahre 1848. Italiener und Ungarn wollten sich gänzlich losreißcn, und auch die treuen und treuesten Provinzen wünschten eine Verfassung, durch welche das Kaiserreich in ein Dutzend selbständiger, nur durch die Personal union lose zusammenhängender Staaten ausgelöst worden wäre. Man be fand sich bei solchem Verlangen sogar größtentheils in gutem Glauben. Der Provinzialscparatismus war in den Schulen gelehrt, auf den Kan zeln verherrlicht, von der Regierung selbst als ihr Slaatsprincip documen- tirt worden. Die freisinnige Presse, welche im letzten Jahrzchnd vor der Revolution zu wirken begann, bewegte sich größtentheils ebenfalls in der provinzialen Beschränktheit. Unter den zahlreichen Oppositionsschriften sind nur sehr wenige, welche den Kaiserstaat als solchen aufgcfaßt und für den hohen Berus desselben Opposition gemacht. Freisinn und Freimuth wurden auf die sogenannte Befreiung der Nationalitäten und Provinzen beschränkt; wer für das ganze Oesterreich begeistert war, wurde für unfrei, für servil, im günstigsten Fall für einen unpraktischen Schwärmer gehalten. An die Stelle des historisch ehrwürdigen Weltreichs sollte eine lockere Föderation treten; jede Provinz sollte ihre selbständige Organisation, ihre unabhängige Volksvertretung, ja sogar ihr besonderes Ministerium bekommen^ und das" einzige Vereinigungsband sollte bis auf Weiteres die Person des Monar chen sein. Gegen diesen politischen Babelbau erhob sich die Geschichte, um ihr in einer Reihe von Jahrhunderten mühsam aufgcrichtctes Werk zu erhal ten. Wahrlich, nicht diese oder jene Persönlichkeit oder Kaste, sondern das LebcnSprincip des historischen Organismus, die historische Naturkraft Oester reichs begann die Rcaction. Sie siegte auch in dieser höchst gefährlichen Krisis, wie sie in frühcrn ähnlichen gesiegt. Die Wirkung dieses Siegs war und ist großartig durchgreifend und wird nachhaltig sein. Dic dem Ganzen widerstrebenden Elemente haben die unwiderstehliche Macht dieses Ganzen kennen urd fühlen gelernt. Diejenigen, welche nur deshalb Geg ner Oesterreichs waren, weil sie an der Möglichkeit eines österreichischen Einheitsstaats verzweifelten, sind von ihren Zweifeln befreit. Diejenigen aber, welche aus den geschichtlichen Thatsachen die Naturwüchsigkeit, aus der örtlichen Lage und aus dem Beruf dieser Oertlichkeit die Nothwendig- keit einer österreichischen Großmacht erkannt und dcmonstrirt hatten, sehen ihre patriotische Doctrin durch sieghafte Thatsachen bestätigt. Aus dem Allen entwickelte und entwickelt sich täglich kräftiger und allgemeiner ein weitblickendes, das provinziale Spicßbürgerthum überwältigendes Reichebe- wußlsein, ein hochherziges großpolitisches Nacionalgefühl. Es wäre thö- richt, zu glauben, oder glauben machen zu wollen, cs seien alle Antipa thien versöhnt, alle Widcrstandsclementc beseitigt Aber sie lernen sich dcr Nothwendigkcit, dem Gesetz der Allgemeinheit fügcn; sie lernen cinschen, daß Trennungsversuche keine glückliche Rolle bieten, daß eine solche nur in und mit dem Reiche möglich ist, welches ja den verschiedensten und reich sten Kräften eine Fülle von Aufgaben bietet, durch deren Lösung mit dem Ganzen zugleich alle Einzelnen Heil und Ruhm erwerben können. Hin fort wird nicht leicht Jemand die früher so leichtsinnig geläufig gewesene Phrase wiederholen: Oesterreich sei ein zufälliges, unnatürliches, rein me chanisches Conglomerät von dynastischen Besitzungen. Dieses vermeintlich und angeblich seelenlose Conglomerät hat sich abermals als lebendiger Or ganismus bewährt, welcher, wie er früher wiederholten Mordangriffen sieg haft widerstanden, zuletzt auch einen Selbstmordversuch zu Schanden gc- macht hat. Die Erkcnntniß und Anerkennung dieser organischen Lebenskraft Oester reichs ist die höchste und wichtigste Errungenschaft Oesterreichs, geeignet, dem alten Neichsbau eine für alle Zukunft unerschütterliche neue Grund lage zu geben, insofern sie nur in ihren Ursachen, Wirkungen und Bedin gungen stets richtig erkannt und benutzt wird. Das altehrwürdige Wesen des Reichs ist durch ureigene Kraft neuerdings als siegreiche Thatsachc glän zend hcrvorgetrctcn; aber dieses Wesen braucht noihwendig eine neue Form, welche das Werk staalsmännischcn Genies sein muß. Möge dieses euro päisch-wichtige Werk bald und so glücklich gelingen, daß es den besondcrn österreichischen Verhältnissen, den Grundsätzen der aufgeklärten Staatslehre, der Würde und dem Berufe eines großen Culturrcichs entspricht. Da dcr Patriotismus überhaupt, wie alle menschlichen Tugenden, von Eigenliebe und Eigennutz nicht frei ist, so wird gerade Oesterreich diese menschliche ! Eigenthümlichkeit in höherm Grade berücksichtigen müssen als andere Staa» ! ten. Ein Reich, welches ehemalige Reiche zu Gliedern hat, ist in mehr als ! gewöhnlichem Grade verpflichtet, diesen Gliedern durch möglichste innere Befriedigung und glanzvolle Vertretung nach außen dic unvermeidlichen Opfer zu vergüten, die sie dem Ganzen bringen müssen. Unbeugsame Kraft, um das Wesen dcr Errungenschaft gegen jeden Widerstand und Angriff zu behaupten, dabei aber mäßigende Weisheit und rücksichtsvolle Klugheit in Betreff der Formen und überhaupt cinc freisinnige und hochherzige Füh- rung des gesammten inner« und äußern Nationallcbens, das ist dcr Neu- jahrswunsch, den der Patriot, den jeder Freund dem Kaiserstaate zum Be ginn des zweiten Deccnniums seiner Verjüngung darbringt. Deutschland. . Preußen. ^Berlin, 28. Dec. Dic Aufstellung des Budget- ist schon seit einiger Zcit vollendet und abgeschlossen, und sind namentlich auch dic Anordnungen in Betreff dcs Drucks desselben von Seiten der Re gierung so getroffen, daß die Vorlage dcs Staatshaushaltsctats für 1858 sofort nach dem Zusammentritte dcr Landcsvertretung erfolgen kann. Wie es heißt, würden weitere Vorlagen von einiger Bedeutung nicht gemacht werden. Ein Umstand dürfte die Aufmerksamkeit dcr Landcsvertretung in dessen doch ganz besonders auf sich ziehen. Wir meinen dic Anträge, welche dcr Ministerpräsident, in seiner Eigenschaft als Chef dcr Admiralität, für die Marine in Aussicht gestellt hat. Der Plan ist im Allgemeinen der, daß vom nächsten Jahre an und für die Dauer von 15 nacheinandcrfol- genden Jahren, also bis 1875, jährlich cinc Summe von beiläufig 2 Mill. Thlrn. auf die Erweiterung und Ausbildung dcr Marine verwendet werden soll. Auf dic Schaffung einer großen Flotte ist es dabei nicht abgesehen, indem Preußen ja nie vergessen kann, daß seine eigentliche Stärke in sei ner ausgezeichneten Landmacht beruht; aber jedenfalls soll eine solche Flotte geschaffen werden, dic dcr dänischen Flotte, bci künftigcn Eventualitäten, dic Spitze bielcn kann. In Ermangelung einer deutschen Flotte hat die