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Sonntag. Nr. 22« Leipzig Die Zeitung erscheint mit Aus»ah»,e des Sonntag« täglich Nachmit tag« für den felgenden Tag. Pret- für da« Vierteljahr 1'/, Thlr.; jede einzelne Nummer 2 Ngr. Deutsche Allgemeine Zeitung. -Wahrheit und Recht, Freiheit und Erseh!» Zu beziehe» durch alle Postämter de« In- und Auslände«, sowie durch die Erpedition in Leipzig (Querstraße Nr. 8). Insertionsgebühr für den Raum einer Zeile 2 Ngr. Deutsch!» nd. L Aus Franken» 17. Sept. Der jetzige Zeitpunkt, besonders wichtig durch die bevorstehende Zusammenkunft des französischen und des russischen Kaisers, führt uns die russische Denkschrift vom Jahre 1854 „über die Gegenwart und Zukunft Deutschlands" ins Gedächtniß zurück. Diese Denkschrift unterscheidet consequent, waS höchst beachtenswerlh ist, zwischen Oesterreich, Preuß, n und Deutschland; dieselbe faßt sogar im Allgemeinen und insbesondere ihrer ganzen Tendenz nach den Bundestag im Gegensatz zu Oesterreich und Preußen auf. In diesem Sinne will sie, „daß der Deut sche Bund selbst eine unabhängige Macht in dem politischen System Eu ropas werde oder dahin gelange, sich mit einer großen auswärtigen Macht zu verbünden", beifügend, daß „ihm beim Abschluß eines solchen Bünd nisses wirklich, nur die Wahl zwischen Frankreich und Rußland bleibe". Indem nun die Denkschrift davon ausgcht, daß Oesterreich und Preußen durch ihre gemeinschaftliche Opposition gegen Frankreich und England als gegen die Repräsentanten des konstitutionellen Systems für lange mit Ruß land verbunden seien, daß dagegen die Mehrzahl der kleinen Staaten sich einerseits durch das konstitutionelle System, andererseits durch ihren eigenen Liberalismus zu Frankreich hingczogen fühlten — sucht sie darzuthun, daß der Bundestag gleichwol in Frankreich nicht die Stütze finden könne, deren er für seine Verfassung bedürfe, daß vielmehr Rußland allein die Macht sei, die ihm zumal bei den monarchischen und legitimen Doktrinen des Bundes eine solche Stütze zu bieten vermöge. Die Denkschrift verweist hierbei auf die schon im Jahre 1799 von Seiten mehrer deutschen Staaten an die russische Regierung gerichtete Note, indem sie den Satz hcraushebt: „Die Staaten des Deutschen Reichs glauben hoffen zu können, daß Se. allerhöchst kaiserl. Maj. von Rußland ihren mächtigen Schutz ihnen nicht entziehen wird." Auch erinnert sie mit gehöriger Betonung an das Jahr 1812 und „wie sehr es Rußland stets am Herzen gelegen, Europa vom französischen Ucbcrgewicht zu befreien, das alte politische System wiederher- znstellen und zu erhalten, und das Heil und die Freiheit Deutschlands zu sichern". Für das bessere Verständnis der Tendenz der Denkschrift dienen dann unter Anderm noch folgende Stellen: „Deshalb müsseü sie (die deut schen Fürsten und Großen) vor allem sich selbst und Dem, was ihnen am theuersten ist, treubleibcn. Ihre heiligste Pflicht ist, keine Beschränkung ihrer Rechte zuzulassen. Sie dürfen nicht zugcben, daß das Ansehen und der Einfluß ihrer Autorität im geringsten «»getastet und vermindert wird. Sie dürfen nicht dulden, daß unter irgendeinem Vorwande in dem allge meinen System der Verhältnisse unter den Mächten und in der Vertheilung der Gewalt in Europa das Geringste geändert werde, welches früher oder später sie selbst aus ihrer legitimen Stellung verrücken könnte. Die kleinen Staaten beim Bundestag, die Mehrheit bildend, sehen nun deutlich, daß weder Preußen, noch Oesterreich ihre Existenz als besondere und unabhän gige Staaten genugsam garantirt, und daß ihnen, selbst in Bezug auf ihre inner« Entwickelungen, die Vormundschaft des einen oder des andern im mer schädlich ist. Auch wird der Bundestag viel eher von einer fremden Macht Garantien für seine Verfassung annchmen. Seine Wahl kann, wie schon bemerkt, nur zwischen Frankreich und Rußland schwanken.... Die einzige große Revolution, welche in Deutschland in der Wissenschaft und in der Theorie statthatte, die Reformation, erschütterte zwei Jahrhunderte lang Europa bis in feine Grundvesten. Eine politische Revolution würde keine geringer« Wirkungen haben." (Schluß der Denkschrift.) Die Zeiten haben mittlerweile sich wesentlich geändert, während die russische Politik noch immer dieselbe ist. Der vormalige russische Staatskanzlcr, Graf Nesselrode, kennt die Denkschrift; er kennt auch die „Europäische Pentarchie", und wie dort Rußland zur Schutzmacht der europäischen Centralassociation (deutsche Mittelstaatcn) und zum „Hüter der echten deutschen Freiheit, der deutschen Sitte, Wissenschaft und Bildung, also zu einer Bestimmung" aus- «rsehm ist, „welche des slawischen HcldenvolkS vollkommen würdig wäre", ja die Stelle verkommt: „Rußland hat durch Polen eine militärische Po sition errungen, welche Oesterreich und Preußen spaltet und unschätzbar für Rußland ist, wenn es zum Schutz und zur Rettung deutschen Geistes und Handelns, als Hort der schwachen, capitulirenden deutschen Mittelstaaten aufgerufen wird." Graf Nesselrode pflegte seit einigen Jahren Deutschland und namentlich das Bad Kissingcn zu besuchen, woselbst mancher Hochge stellte ihm aufwartetc; er war erst kürzlich mehre Wochen in Frankreich und zu Paris und wird sich wol auch in Stuttgart einfinden. Bereits soll er in Baden-Baden angekommen sein. Die Reisen der russischen Gro ßen sowol als auch selbst die der russischen höchsten Herrschaften sind stetS mit Bestrebungen und Zwecken jener russischen Politik verbunden, die, trotz liebreicher Wangentüsse und huldvoller Handdrücke, klug berechnend und beharrlich ausführcnd ihre Bahn maßloser Selbstsucht wandelt. Dahin gehören beispielsweise auch der Aufenthalt der Kaiserin-Mutter in Nizza und ihr Ausflug nach Hom, die Reise des Großfürsten Konstantin nach Frankreich und die Besuche des Zar bei einer Reihe von deutschen Höfen - im Juli. Uebcr die russischen Jntriguen in Italien gab schon das im Jahre 1815 erschienene „Neueste Portfolio" wichtige Aufschlüsse. Im Interesse von Rußland weiß die russische Politik sich auch der Revolutionäre zu be dienen. Warum sollte diese Politik die Verhältnisse, wie sie in mannich- fachcr Umgestaltung jetzt vorliegcn, nicht auch in jenem Interesse auszubcu- ten verstehen? Ein constitutionelles Frankreich gibt cs dermalen nicht; Lud wig Napoleon herrscht über die Franzosen, trotz der „Heiligung der Erin nerungen von 1789", ebenso absolutistisch wie Alexander II. über seine Russen, und die Bedenken bezüglich der „Legimität" sind von der russischen Politik längst überwunden. Wie wäre es nun, wenn diese Politik, vorbe haltlich der nölhigen Abänderungen, auf die Tendenz der Denkschrift von 185-4 zurückgriffc und den Versuch machte, das französische Cabinet dafür als Gesellschafter zu gewinnen? Uebcr die Einsätze und Gewi'nnbczügc würde man sich wol ehcr verständigen als im Jahre 1807. Gelänge cs dann noch, daS englische Cabinet wenigstens insoweit in das Interesse zu ziehen, daß dasselbe, zumal bei seinen jetzigen Verlegenheiten, auf seinen Widerspruch verzichten würde: welche Aussichten wären dann für „die Wohl fahrt des deutschen Vaterlandes" geöffnet? Oder ist cs etwa eher wahr scheinlich, daß der französische Kaiser und der russische Zar, anstatt den Einfluß auf Deutschland und Anderes unter sich zu thcilen, für diesen Ein fluß vorerst nur Rivale wären und bis auf Weiteres auch Rivale blieben, unbeschadet jedoch der Vereinbarung für das den beiderseitigen Interessen Gemeinsame? Was hätte Deutschland damit für seine „Wohlfahrt" ge wonnen? Soviel bleibt immerhin gewiß, daß die liuttgartcr Zusammen kunft von höchster Wichtigkeit für Deutschland ist und daß Plane von gro ßer Tragweite mindestens ausgearbeitct und im Werke sind. Mit Obigem haben wir vielleicht den Stoff zum Nachdenken vermehrt. Dies soll un- umsomchr genügen, als wir nicht in die Zukunft zu sehen vermögen und uns lvedcr für diese noch für jene Ansicht hier entscheiden wollen. Am liebsten wird cs uns jedenfalls sein, mit unserer Lucubration uns schon in nächster Zukunft in die Classe der „Schwarzseher" verwiesen zu wissen. Preußen, -f-Berlin, 17. Sept. Die heutige Abcndsitzung war zugleich auch die Schlußsitzung der Versammlung vonevangclischen Christen aus alllcn Ländern. Als noch zu erledigen standen auf der Tagesordnung: Berichte über die kirchlichen Zustände von Ostdeutschland: Pastor Kuntze aus Ber- lin; Westdeutschland: Consistorialassefsor Pastor Göbel aus Koblenz und Prediger Ledderhosc aus Baden; Böhmen: -Pastor vr. Nowotny aus Pe- tershain bei Niesky. Hierauf noch Verhandlung und Schlußwort, gespro chen vom Hofprediger Krummacher ans Potsdam. Die Sitzung wird mit Gesang und Gebel cingeleitel. Pastor Kuntze : Der nördliche Theil des öst lichen Deutschland sei ganz protestantisch, und hier, wo die lutherische Kirche sich so schnell ausgebreitct, habe sie auch gezeigt, was sic vermag. Zwar werfe man der lutherischen Kirche Unduldsamkeit vor, und eS sei dies a»r und für sich auch nicht unbegründet; aber die Freisinnigkeit dcrLandes- fürstcn hätte für religiöse Freiheit zu sorgen gewußt. Leider hätten im Laufe der Zeit der Nationalismus, der Unglaube, die Gotlentfremdung sehr zugenommcn. Hieran knüpfe sich eine große Zerrüttung des Familienlebens; in Preußen kämen jährlich 2—5000 Ehescheidungen vor. Und nun gar vollends das entsetzliche Branntweintrinkcn. Redner führt hiervon einige haarsträubende Beispiele an. Die Industrie sei, mit Bezug auf die Be schäftigung der Kinder in dcn Fabriken, ebenfalls anzuklagen. Mord, Dieb- stahl, Meineid rc. nehmen überhand, und die Gefangenhäuser seien so überfüllt, daß die Neuverurtheiltcn oft nicht untergebracht werden könnten. Für die Besserung der Gefangenen geschehe alles Mögliche, aber ohne Er folg, und gewöhnlich kämen die Verbrecher noch schlimmer zurück als sie gewesen. Die Unzucht nehme auch überhand; die Genußsucht kenne keine Grenzen. Geld müsse man daher haben, und so stürze man sich in Spiel, Agiotage, Börscnschwindel >c. Hierzu komme ferner die schlechte Presse, wenn andererseits auch nicht zu verkennen sei, daß die Presse auch man ches Gegengift an die Hand gegeben. Die Lagcspresse sei im Allgemeinen dem Christenthum entfremdet. Man brauche sich darum nicht zu wundern wenn wenig kirchlicher Sinn zu findcn sei. Im Allgemeinen könne man annehmen, daß von 50 Personen nur Eine die Kirche zu besuchen pflege' ES flehe also schlecht bei uns. Aber zu bedenken sei auch, daß die luihe» rische Kirche von jeher abhängig gewesen sei vom Staat, wodurch eine kräftige innere Thäligkeit in dieser Kirche fast zur Unmöglichkeit gemacht worden. Vor allen Dingen müsse daher eine größere Selbständigkeit für die lutherische Kirche gefodert werden, und zwar in erster Linie eine freie Gemei,rdeordnung. Redner geht hierauf die einzelnen Provinzen durch. In Preußen und Posen stehe es !m Allgemeinen gut. Schlesien, früher unter- drückt, habe sich, namentlich auch in protestantischer Beziehung, unter preu ßischer Herrschaft wieder erholt. Der Rationalismus habe vordem viel ge schadet; in der letzten Zeit sei es abcr besser geworden. In der Mark Bran-