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1I4S Beilage zur Deutschen Allgemeinen Zeituug vom 7. Juni 1887. Italien. Neapel und Sicilien. Man schreibt dem Courrier de Paris aus Neapel vom 23. Mai: „Das neue, mit dem römischen Hof abgeschlossene Concordat ist ein entschiedener Schritt nach der guten asten Zeit hin, wo das Sanctum Officium noch in voller Blüte stand. Das Concordat ist noch nicht erlassen, wird aber schon theilweise in Ausführung gebracht. Höchst sonderbarerweise kann es nie veröffentlicht werden und auch nicht in der Gesetzsammlung figuriren; allein im Geheimen festgestellt und in seiner gan zen Kraft zur Ausführung gebracht, wird cs in die Sitten übergehen, ohne nur einmal Concordat zu heißen. Für den Augenblick zerstückelt man es in einzelne Decretc, welche jetzt in der königlichen Druckerei gedruckt wer den; allein man wird sic nicht an den Mauern anschlagc», sondern sich damit begnügen, sie den Diöcesanbischöfcn des Königreichs nebst einem sehr vertraulichen Rundschreiben mitzutheilen. Es wird äußerst schwer sein, sich ein Exemplar dieser Decrete zu verschaffen. Der Inhalt ist noch nicht sehr bekannt; allein wir wissen bestimmt, daß dem Decret gemäß die Annahme von Vermächtnissen der königlichen Genehmigung nicht mehr unterworfen ist. Das Exequatur ist zum großen Theil durch freiwillige Entsagung der weltlichen Macht abgcschafft, und die Genehmigung des Königs, welche frü her zum Eintritt in die geistlichen Körperschaften nöthig war, wird ein sehr beschränktes Recht. Was das Treiben der Priester am Sterbebett betrifft, um den Sterbenden Vermächtnisse für die Kirche abzuprcssen, dies grenzt ans Unglaubliche. Zu der Commission des Concordats gehören der Erz bischof von Sarento, Monsignore Acpuzzo; der Erzbischof von Capua, Car dinal Cosenza; und Monsignore Majorsicri. Alle Verhandlungen wegen des Concordats sind vom König allein mit Ausschluß des Ministers gere gelt worden. — Man beschäftigt sich noch viel mit dem Muratismus; ein sehr vertrauliches Rundschreiben ist deshalb an die Provinzialbehörden und die Führer der Stadtmilizen geschickt worden. Kürzlich Hal man im neuen Schlosse, unter dem Waffensaalc, in einem unterirdischen Gemach, wohin man nur mit einer Laterne in der Hand gelangen konnte, 52 Gefangene (Unteroffiziere und Soldaten) gefunden, von denen man geglaubt hatte, sie seien auf den Inseln gestorben. Diese Unglücklichen leben noch. Dieses Factum kann aus Ehre versichert werden. Zwei in Neapel ansässige Eng länder, die Herren Furner und Cuppy, sind nach dem Bagno von Monte- sarchio geschickt worden, um den Ort in Augenschein zu nehmen und einen Bericht an das britische Cabinct zu redigiren. Sie haben ausgesagt, die über die Gefangenen verbreiteten Gerüchte seien sehr übertrieben. Die po litischen Sträflinge tragen zwar die Strafjacke, aber so will es das Regle- ment; sie schleppen zwar die Ketten nach sich, aber das ist die Uniform. Sie gehen nicht aus, wie die andern Galeerensträflinge, und schlimmer be handelt als die Mörder, leiden sie zugleich vom Bagno und von der Zcllen- haft; das ist zwar wahr, ist aber auch Alles, was man sagen kann. Einige sind krank geworden, von Schmerzen gequält und gelähmt; die Geschwüre Poerio's sind keine Erfindung ; aber man pflegt sie und hütet sich, sie ohne den Beistand eines Apothekers und eines Priesters sterben zu lassen. Dieser an der Börse abgestaltete Bericht bestätigt also die frühern Gerüchte voll ständig. Vor dem Besuch der Herren Furner und Cuppy hatte man den härtesten und verhaßtesten Beamten von Montcsarchio, den Polizciinspector Giamatto, abbcrufen und den mildern Inspektor Madia an seine Stelle ge setzt. Jetzt aber, nun die Engländer ihren Bericht abgcstattet haben, ist Hr. Giamatto wieder in seine Stelle cingetreten. In den Straßen von Neapel wird mehr als je angcfallen, geplündert und gemordet. In gewissen Stadt- theilen wagt man sich des Abends gar nicht mehr auf die Straße hinaus. Vor kaum 10 Tagen wurde die Post von Rom angehalten und die Rei senden geplündert. Handel, Industrie, Kunst, Alles liegt traurig danieder, aber die materielle Ordnung besteht; dies genügt." Spanien. Der Preußischen Korrespondenz schreibt man aus Cadiz vom 23. Mai: „Nach den hier neuerdings eingehenden Nachrichten dauerten um die Mitte des Monats die Neckereien zwischen den Marokkanern des Riffs und den Besatzungen der afrikanisch - spanischen Küstenpläße noch immer fort. Von Pcnon aus hat man ein halbes Dutzend Niffbcwohner durch einen Ausfall überrascht, und dieselben wurden gefesselt nach Alhucemas geschafft, wo sie gegen die von den Marokkanern aufgegriffenen und noch am Leben befindlichen Dolmetscher und zwei Matrosen ausgewechselt werden sollten. Der Tribus von Benifidel hatte die unlängst von Melilla aus weggenom- mcnen beiden großen Boote reclamirt, jedoch vergeblich. Er hatte demnächst beschlossen, sich Genugthuung zu verschaffen und, sobald ihn die Reihe tref fen würde, die maurischen Wachen und Vorposten rings um die Festung zu besetzen, Nachts die Mauer der Festung zu besteigen, einige Schildwa chen zu überfallen und zu tödten und sich dann einiger Geschütze zu be mächtigen. Die Geschütze sollten hinabgcstürzt und dann gegen die Festung verwendet werden. Man fertigte heimlich einige 30 Fuß hohe, starke Lei tern an, schleppte sie in der Nacht vor dem beabsichtigten Ueberfall nach der Bastion San - Geronimo und versteckte sie hinter dem hohen Ufer des dort mündenden Goldfluffes. Der Plan wäre vielleicht gelungen, wenn nicht die Eifersucht und Feindschaft der Tribus gegeneinander ihn verrathcn hätte. Der Gouverneur Morcillo wurde durch einen Mauren von Mazuza gewarnt. Infolge dessen ließ er den Adjutanten Lopez in Begleitung von 14 Soldaten von dem Hafen aus in die Mündung des Goldflusses ein- I fahren und die oben erwähnten Leitern und außerdem zwei dort befestigte europäische Boote, welche wahrscheinlich Schiffbrüchigen zur Rettung ge dient hatten, nachher aber von den Marokkanern aufgegriffcn worden wa ren, wegnchmen. Dieser europäischen Boote hatten sich die Nifcnos angeb lich bedienen wollen, um die Festungsboote von Melilla des Nachts anzu zünden. Adjutant Lopez führte unter dem Feuer seiner Mannschaft und der Marokkaner den Auftrag glücklich aus, ohne daß ein Menschenleben dabei zu beklagen gewesen wäre." Türkei. Konstantinopel, 29. Mai. Die Armee wird, dem Vernehmen nach, auf den Friedensfuß gebracht und die in Konstantinopel befindlichen Trup pen werden theils nach Damascus, theils nach Rumclien entsendet wer den. — Der Sultan, heißt es, wird eine mchrwöchcnlliche Reise am Ge stade des Marmarameercs unternehmen. — Eine Collectivnote der Gesand ten empfiehlt energische Maßregeln zur Aufrechthaltung der gefährdeten Sicherheit der Straßen. — Vorstudien für den Bau einer Eisen bahn von Samsun nach Jokat haben begonnen. — Riza-Bei, der Gesandte der Pforte für Petersburg, bereitet sich zur nahen Abreise vor. — Als Geschäfts träger, für Neapel wird Di. Spitzer bezeichnet. China. Einem Briefe der Times aus Hongkong vom 15. April über die Lage der Dinge in China entnehmen wir Folgendes: Die Verhältnisse haben sich in der letzten Zeit nicht geändert; doch ist Aussicht aus eine baldige Beendigung des ganzen chinesischen Streits vorhanden, wenn die 10,009 Mann, welche jetzt auf persischem Boden stchcn, herbeigczogen werden kön nen. Dies müßte sobald als möglich geschehen, um von Nutzen zu sein; denn schon verbreitet sich im Norden des Reichs die Mär, die Engländer seien von den Kantonesen geschlagen und vernichtet worden. (Es wird ein frommer Wunsch bleiben, da übereinstimmenden Angaben zufolge an eine Räumung des persischen Gebiets vor September kaum zu denken ist.) An dererseits kommen Berichte, daß der Jnsurgentenkaiser namhafte Vortheile über seinen Gegner in Peking davongetragen habe. Es scheint sich zu be stätigen, daß die Rebellen von Kiangsi im Besitz des Chang-Duh-San- Passes sind, der die einzige von dieser Provinz in die fruchtbare und reiche Küstenprovinz Che-Keang führende Straße ist; daß der westliche Theil der Provinz Fukien nebst den nach Kiangsi führenden Bergpässen in ihrer Ge walt sei; daß die lange vergebens belagerte Hauptstadt von Kwangsi (Kwei- ling-fu) endlich gefallen sei, und daß zwei von den Rebellenführern sich thatsächlich im Norden von Kwangtung festgesetzt haben, während ein drit ter, der gefürchtete Le, an der Spitze von 60,000 Mann Kanton selbst bedrohe. Das interessanteste Ereigniß der letzten 14 Tage ist die Erbeutung eines ganzen Hauseys chinesischer Depeschen, die den Engländern in einem Gefecht mit 11 Kriegsdschonken und zwei bewaffneten Larchas, die sämmt- lich in den Grund gebohrt wurden, in die Hände gefallen waren. Manche davon werfen auf den Charakter und die Lage der kaiserlichen Behörden in Kanton ein cigenthümliches Licht. Es wird in denselben der Vergif tungsversuche billigend Erwähnung gethan, ohne daß jedoch der Name irgendeines der Thäter genannt wird. Einige dieser Aktenstücke enthalten Plane zur Wegnahme englischer Schiffe und Ermordung der Bemannung; andere sprechen sich lobend über dergleichen gelungene Versuche aus; und wieder aus andern geht hervor, daß Jeh's Geldmittel zu Ende sind. Von Anfang an war er genöthigt gewesen, seine „Tapfern" tüchtig zu bejahen, da sich sonst keine Hand gerührt hätte. Ferner hatte cr für englische Köpfe zu hohe Preise ausgesetzt, da das Geschäft für ziemlich gefährlich erachtet wurde, und um diese Ausgaben zu decken, hatte cr freiwillige Geldzeich- nungcn veranstaltet, die, wie cs sich herausstcllt, jedoch nur die erste Zeit ausreichten. Jetzt sind die Kassen so leer, daß der „Ausschuß in Kanton" die Prämien für englische Köpfe nicht mehr zu zahlen im Stande ist, nacb- dem sie dieselben früher schon von 100 auf 30 Tacls herabgesetzt hatten. Um seinen Leuten den wahren Sachverhalt zu verheimlichen, hat nun Jeh zu einer sehr schlauen Erklärung seine Zuflucht genommen; er versichert nämlich, die verstockten Barbaren seien hart genug gezüchtigt worden und er wolle ihre Köpfe nicht mehr. Somit scheint cs mit dem gepriesenen Fanatismus der Chinesen nicht weither zu sein. Was die Leute von Kan ton bisher gethan haben, ließen sie sich vom Gouverneur gut zahlen, und das Heer seiner angeworbenen Tapfern scheint zu keiner Zeit stärker als 1000 Mann gewesen zu sein. Trotzdem kommen noch immer Mordver suche vor. Der Sohn eines Mandarinen, der sich als Kuli verkleidet an Bord der Gulnare geschlichen hatte, um die europäischen Reisenden zu er morden, ist hingerichtet worden, und gar merkwürdig war cs, wie seine 17 Genossen, die zu lebenslänglicher Transportation vcrurtheilt worden waren, auf den Knien baten, daß man sie doch auch lieber hinrichte. Ob aus Aberglauben oder aus Furcht vor Zwangsarbeit, läßt sich schwer sagen. Zwei Tage nach dieser Vcrurtheilung richtete das unparteiische englische Ge richt einen Europäer und mehre mit ihm verbundene Chinesen, die über führt worden waren, sich schändliche Grausamkeiten gegen chinesische Kulis erlaubt zu haben. Das allerneueste Gerücht lautete dahin, daß die kaiser liche Armee wegen des rückständigen Soldes in voller Meuterei sich befinde, daß die Soldaten massenweise dersertircn und das Elend und Misvergnü- gen der Bevölkerung den höchsten Grad erreicht habe.