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„Lebensstellung", das Direktorenamt des Liceo Musicale in Venedig, angetragen wurde. Im Jahre 1902 fand der Zwanzigjährige mehrere, noch völlig unerschlossene Manuskripte altitalienischer Komponisten — eine Begegnung, die für Malipieros künstlerische Entwicklung, seine ganz eigene Stellung zu den Epochen der Musik geschichte grundlegend wurde. Denn er entdeckte zum ersten Male seine aus gesprochene Vorliebe für die italienische Musik früherer Jahrhunderte, die aus gedehnte musikhistorische Studien und Forschungen zur Folge hatte und seine ablehnende Haltung zur Musik des 19. Jahrhunderts, zur italienischen Oper und zur deutschen Sinfonik speziell, festigte. Bei den alten Madrigalisten Gesualdo, Monteverdi, Galuppi, Cavaliere, den venezianischen Instrumentalisten fand Malipiero die ihm gemäße Geistesverwandtschaft. Die Gesamtausgabe der Werke Monteverdis und — nicht abgeschlossen — Vivaldis, zahlreiche Publikationen zur Wiedererweckung alter Musik gehören zu seinen wichtigsten Leistungen. Indem er aber immer tiefer in die Welt der „Alten" eindrang und Strawinskys, Hindemiths „Neoklassizismus" eine Art „Neovorklassizismus” entgegensetzte, wuchs seine Opposition gegen den damals in Italien üblichen „Belcanto"-Stil, den verflachten, allzu vordergründigen Verismus. Seinen künstlerisch-stilistischen Durchbruch erzielte Malipiero mit einer „Ver schmelzung" archaisierender, im- und expressionistischer Tendenzen, die natur gemäß nicht ohne innere Widersprüche bleiben konnte. Er entwickelte seine eigengeprägte Kunst im Zeichen der Vorherrschaft des Melodischen, das von der Gregorianik, der Tonsprache des 16., 17. und 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflußt wurde. Seine Ablehnung jeglichen Schemas führte zu einem Protest gegen die „thematische Arbeit", gegen das Grundprinzip also der Musik des 19. Jahrhunderts. Statt dessen gelangte er zu einer neuartigen Kontrastierung lyrisch-melodischer Gebilde, ohne eigentlich polyphon oder sinfonisch zu „bauen". Aus seiner lyrischen Grundeinstellung heraus, nach seiner Beschäftigung mit der Rezitativoper des 17. Jahrhunderts, erschloß sich Malipiero die Musikbühne, von dem Dichter Annunzio nicht unwesentlich inspiriert. Obwohl Malipieros Bedeu tung sicherlich in seinem Opernschaffen liegt, verdient er doch auch als Kammer musiker und Sinfoniker herausgestellt zu werden. Gerade in den Instrumental werken kommt der für den Komponisten typische „Lyrismus" gültig zum Ausdruck. Das 1932 geschriebene und ein Jahr darauf in Mailand uraufgeführte Konzert für Violine und Orchester zeigt deutlich Handschrift und Eigenart Malipieros. Zwar wahrt es äußerlich die traditionelle Dreisätzigkeit der Konzert form, doch verzichtet es auf die sinfonische Entwicklung des thematischen Ma terials im Sinne des 19. Jahrhunderts. Malipiero läßt die musikalischen Gedanken vielmehr aufeinanderfolgen wie in „einem flüssigen Gespräch". Die Grundmotive werden nicht „entwickelt“, sondern „ausgesponnen“ durch wechselnde klangliche und tempomäßige Belichtung. Das melodische Element ist das vorherrschende, ihm unterstellt sind die eigenwillige Rhythmik, die herbe, auf freier tonaler Basis beruhende Harmonik, eine natürliche, nicht vergrübelte Polyphonie und die durchsichtige Klanglichkeit der Instrumentation. Erscheinen auch die einzelnen thematischen Einfälle mehr aneinandergereiht als verarbeitet, vermag der Kom ponist doch in allen Teilen seines knappen, übersichtlichen Werkes, das dern Soloinstrument stets Raum zu konzertanter Entfaltung gibt, eine eindringliche Spannung zu erzeugen. Im erregt-drängenden Ausdrucksgeschehen des ersten Satzes (Allegro con spirito) werden fast opernhafte musikalische Elemente, Rezi- tativisches und Arioses, miteinander verbunden. Der langsame Mittelsatz (Lento ma non troppo) mutet ebenfalls wie eine Gesangsszene an. Schlichte, klare Linien kennzeichnen diese charaktervolle Musik. Das Finale (Allegro) bringt den schwungvollen Abschluß des Werkes. Tänzerische Rhythmen und Weisen be stimmen sein Wesen. Eine Kadenz des Solisten fügt sich zwanglos dem Ganzen ein. Ein für die Entwicklung des Bartokschen Orchesterstiles wesentliches Werk ist die im Jahre 1923 für ein Festkonzert anläßlich der Fünfzigjahrfeier der Vereinigung von Buda und Pest zur Großstadt Budapest komponierten Tanz- Suite, die neben Dohnänyis „Festouvertüre" und Kodälys „Psalmus Hun- garicus" erstaufgeführt werden sollte. Es handelt sich hierbei um fünf originelie tänzerische Sätze, die durch ein gleichbleibendes, elegisch-besinnlich und leicht variiertes Ritornell mit sinfonischen Mitteln sehr einheitlich zusammengefaßt werden, über die Themen der einzelnen Sätze äußerte sich der Komponist folgendermaßen: „Teil No. 1 ist teilweise, No. 4 ganz orientalischen (arabischen) Charakters, das Ritornell und No. 2 ist madjarisch, in Teil No. 3 wechseln ungarische, rumänische, sogar arabische Einflüsse miteinander; das Thema von No. 5 ist aber so primitiv, daß man von nichts anderem reden kann als von primitiv-bäuerlichem Charakter und verzichten muß, der Nationalität nach zu klassifizieren". Bei kühner Satztechnik und Harmonik gelang Bartök mit der Tanz-Suite ein übersprudelnd musikantisches, mitreißendes Werk. In sehr originellen Variatio nen, von verschiedenen Instrumenten vorgetragen, wird im ersten Teil (Moderato) die vor allem rhythmisch akzentuierte thematische Substanz mannigfaltig be leuchtet. Die Themen des zweiten (Allegro molto) und des dritten Teiles (Allegro vivace) sind lebhafte Tanzmelodien. Von schwermütigem Charakter ist das Thema des vierten Teiles (Molto tranquillo), während das stürmische Finale (Allegro), in dem die Themen der einzelnen Tanzsätze miteinander wetteifern, die Suite in ungestümer, freudiger Stimmung und mit hämmernden Tonwiederholungen krönt. Dr. habil. Dieter Härtwig