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ZUR EINFÜHRUNG Arnold Schönberg wurde im Jahr 1874 in Wien geboren. Er erwarb sich bei seinem Schwager Alexander von Zemlinsky, vor allem aber durch gründliches Selbststudium ein hervorragendes Wissen um den musikalischen Satz. Ab 1902 übte er eine eigene Lehrtätigkeit aus. Zu seinen berühmtesten Schülern gehörten in der Folgezeit Alban Berg, Anton von Webern, Hanns Eisler, Hans Erich Apostel, Hanns Jelinek, Ernst Krenek und Egon Wellesz. 1910 wurde er Lehrer an der Wiener Musikakademie, 1923 Leiter der Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste in Berlin. Vor dem Faschismus emigrierte er 1933 in die USA, wo er als Professor für Komposition an der Kalifornischen Universität in Los An geles tätig war. Seit 1944 lebte er hier von einer geringen Rente und verstarb im Jahre 1951. Arnold Schönberg dessen Geburtstag sich am 13. September vorigen Jahres zum 100. Male jährte, gehört zu den bedeutendsten Vertretern der bürgerlichen sogenannten „Neuen Musik" unseres Jahrhunderts. Sein Name ist aufs engste mit der Herausbildung der zwölftönigen Setzweise in der musikalischen Kompo sition verbunden. („Der Methode, mit zwölf Tönen zu komponieren, gingen viele Vorversuche voraus . . . Einheit und Ordnung waren es, die mich unbewuß diesen Weg geführt hatten.") Schönbergs dritter Schaffensabschnitt (etwa seit 1920) brachte die Aufstellung der Lehre von den zwölf aufeinander bezogenen Halbtö nen der Oktave, mit der der Komponist verantwortungsbewußt der Aufhebung der tonalen Bindungen in der bürgerlichen Musik seiner Zeit entgegenzutreten ver suchte. Eine Synthese aus konstruktiver Logik und stärkster Expression, geniale Be gabung, ein mathematisch-fundiertes System mit künstlerischer Intensität und musi kalischem Ausdruck zu erfüllen — das ist es, was Schönbergs musikgeschichtliche Leistungen kennzeichnet, über deren Größe und Grenzen Hanns Eisler treffliche Beobachtungen und Analysen angestellt hat, die dem „Phänomen" Schönberg im Anerkennenden wie im Kritischen sehr gerecht werden. Obwohl Schönberg selbst sagte: „Musik, die nicht aus dem Innern ihres Schöpfers kommt, kann nie gute Musik sein . . . Auch in heutiger Zeit entbehrt ein Komponist ohne Ro mantik grundsätzlich der menschlichen Substanz", immer nach besten Kräften danach handelte und in den Spätwerken der Emigrationszeit mehrfach zu tonalen Zentren zurückkehrte, spielen seine Werke im praktischen Musikleben unserer Zeit immer noch nicht wenig mehr als eine periphere Rolle. Der im Wien der Jahrhundertwende aufgewachsene Schönberg begann seine künstlerische Entwicklung als Spätromantiker und enthusiastischer Apologet der Wagnerschen „Zukunftsmusik". Seine frühen Werke bis zur sinfonischen Dichtung „Pelleas und Melisande" stehen im Banne eines Brahms, Mahler, Richard Strauss und vor allem eines übersteigerten Wagnerismus. In der mittleren Schaffensperiode (1908—1920) begab er sich immer intensiver auf die Suche nach neuen kompositionstechnischen Gestaltungsmitteln, die ihn bis an die Grenzen der Tonalität und bald auch in atonale Bereiche führte. Dieser Zeit entstammen die 1909 komponierten und 1912 in London uraufgeführten Fünf Orchesterstücke o p. 16, die auf Grund ihrer erheblichen auf führungstechnischen Schwierigkeiten nur selten im Konzertsaal erklingen. Der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm, ein Kenner des Schönbergschen Oeuvres, äußerte zu dem Werk: „Die Stücke trugen ursprünglich keine Titel. Schönberg notierte dazu: ,Was zu sagen war, hat die Musik gesagt. Wozu dann noch das Wort. Wären Worte nötig, wären sie drin. Aber die Kunst sagt doch mehr als Worte.' Als sich Schönberg endlich entschloß, zwar keinen Haupttitel, wohl aber Überschriften zu den einzelnen Stücken zu wählen, war der Verleger ent täuscht: er hatte irgendwelche ,landesüblichen' erwartet. Sie blieben in der ersten Partiturausgabe von 1912 denn auch fort, stehen aber in der revidierten Ausgabe von 1922. Sie lauten dort; I. .Vorgefühle', II. .Vergangenes', HL .Farben', IV. .Peri petie', V. ,Das obligate Rezitativ'. .Teils höchst dunkle' Titel, wie Schönberg selbst meinte, teils sind sie auf .Technisches' bezogen. Immerhin bezeichnen sie gewisse allgemeine Inhalte, wie sie im Umkreis des Expressionismus vor dem ersten Welt krieg nicht ungewohnt waren. Die Fünf Orchesterstücke sind Schönbergs einziges Orchesterwerk aus der Phase der freien Atonalität. Obwohl sie, durch mehrere Motive und Ausdruckscharaktere miteinander verbunden, ein Ganzes bilden, stellt sich jedes einzelne eine spezifi sche kompositorische Aufgabe. Die motivische Disposition des ersten Orchester stücks ist von drastischer Ökonomie. Schon in den ersten 6 Takten, einer Art Expo sition mit Hauptsatz und aufgelöstem Nachsatz, wird mit zwei melodischen Grund- gestalten gearbeitet, die jeden Ton, also selbst .Nebensächliches', thematisieren. Zunächst haben diese Grundgestalten die Tonfolgen e-f-a und d-cis-g. Sie wer den nicht nur miteinander kontrapunktisch verknüpft, sondern bilden den Akkord vorrat des ganzen Stückes. Die wichtigste Akkordauswahl nach der Wiederholung der äußerst komprimierten Exposition ist die Harmonie d-a-cis, die vor allem als liegender Akkord eingesetzt wird. Uber ihm spielt sich eins der wildesten Ostinati ab, die je geschrieben wurden. Es verläuft kanonisch in Vergrößerung und Verklei nerung, nimmt also kontrapunktische Techniken vorweg, die später bei Schönberg zu höchster Virtuosität gelangt sind. Das völlig unsymmetrische, reprisenlose Stück, dessen Form also .offen' ist, besitzt ein Pendant im vierten Stück, nur daß dieses die Kontraste noch mehr verschärft und sie auf noch engeren Raum zu sammenrückt. Hieß das erste Stück »Vorgefühle' — Vorgefühle der Angst und der Katastrophe —, so nannte Schönberg das vierte nicht umsonst .Peripetie', den Wendepunkt im Drama; der Name .Scherzo' träfe, weil durch die Tradition vorbe lastet, nicht mehr das Richtige. Das zweite Stück mit dem Titel .Vergangenes' ist der Form nach traditionell; zu mindest liegt ihm die Idee einer einfachen Liedform zugrunde. Es lassen sich zwei Hauptteile unterscheiden: ein thematischer, kontrapunktisch dichtgefügter Teil, dessen Orchestersatz äußerst aufgelockert ist, und ein statischer Teil,dessen Klang flächen aus amorphen, gleichwohl motivisch abgeleiteten Ostinatofiguren be stehen. Der musikalische Inhalt löst nun die Aufgabe, zwischen den gegensätzli chen Teilen zu vermitteln, so daß sie sich am Ende durchdringen. Von beispielloser Gestaltung und außergewöhnlichem Ausdruck ist das dritte, das berühmte ,Farben'-Stück. Es beginnt mit dem unverwechselbaren, merkwürdig desolat klingenden Akkord c-gis-h-e-a, welcher in gleichen Zeitabständen wiedeT- holt wird. Jede Wiederholung wechselt zugleich zwischen zwei verschiedenen Klangspektren, wobei stets ein Rest, also ein Teil der Klangfarben liegenbleibt und sich bei der nächsten Wiederholung mit dem anderen Klangspektrum über lappt. .Durch diesen, sich durch das ganze Stück hinziehenden Farbenwechsel der Akkorde', schrieb Webern, .entsteht ein eigentümlich schimmernder Klang, ver gleichbar, wie Schönberg sagt, mit dem immerwechselnden Farbeindruck einer mäßig bewegten Seeoberfläche.' Ein anderer Schönberg-Schüler, Egon Wellesz, hatte 1921 mitgeteilt, daß das Stück auf eine Impression zurückgehe: eine Morgenstimmung auf dem Traunsee'. Im gleichen Zusammenhang schrieb Webern, daß die Fünf Orchesterstücke »ganz ungebunden' seien. »Man könnte hier vielleicht von einer Prosa der Musik reden.' Das formal Ungebundene, Prosahafte wird besonders in Stück V, einem unsäg lich schmerzlichen Walzer, auf merkwürdige Weise realisiert. Hier wird eine wie ein Rezitativ .sprechende' Hauptstimme durchweg, zuweilen beinahe .punktuell', durch die verschiedenen Orchesterinstrumente geführt. Sie ist aus unzähligen kleinsten Motiven zusammengesetzt, deren Ordnung schwer zu bestimmen ist. Immerhin wird das erste Motiv des Stückes — die Tonfolge e-dis’-d mehrmals schon