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Rr 274 St. November I8SS Deutsche Mgmeim Zeituug «Wahrheit o«d Recht, Freiheit vnd Gcsch!» Preis für da« Vierteljahr t'/, Tylr.; jede einzelne Stummer 2 Rgr. Zu beziehen durch alle Postämter de» In- unv Auslandes, sowie durch die Krpedition in Leipzig «Querstraße Nr. Z). Jnsertionsgebübr für dkn Raum einer Zeile 2 Ngr. Meitag. MeiPzi«. Di« Zeitung erscheint imt Au«nah»«e des Montag« täglich und wird Vtachmutag« 4 Nhr aus« gegeben. Wege« -es BttßtagS erscheint -le nächste Nummer Sonnabend, 22. November, Nachmittags. Anr Situation. 17. Rov. Dit europäischen Verhältnisse haben plötzlich un erwartete Veränderungen erlitten, die unzweifelhaft nicht ohne wesentliche Folgen für -Vie allgemanc politische Constellation bleiben werden. Man darf sich, UM za 'diesem Schluß zu gelangen, keineswegs in die labyrinthischen 3Mge der Eonjccturalpolitik verirren, da derselbe seine Begründung offen- dar in «nabweisiichen Thatfachen findet. Denn Allianzen, welchen man eine lange Dauer versprach, gehen ihrer Lösung entgegen, und mächtige Eontinentalstaaten, die sich noch vor kurzem im blutigen Kampfe entgegen- gestanden, haben sich mit wechselseitiger Zuvottommenheit auffällig genähert. DaS englisch-französischeBündniß ist augenscheinlich bereits so sehr gelockert, daß eS »hatsächlich nur noch church eltten dünnen Faden zusammengehalten zu Werden scheint, insofern dasselbe überhaupt noch als bestehend betrachtet werden kann. Andererseits hat di« ünverhüllte Annäherung zwischen Frank reich und Rüßland so entschiedene Schritte gemacht, daß eine 'bereits statt- gefundene bestimmte Verbindung dieser beiden Mächte, wenn anders einige beachtenSwerthe und bisher noch nicht in die Oeffentlichkeit gedrungene An zeichen nicht trügen, als eine vollendet- Thatsache angesehen werden dürfte. Eine solche wird jedoch jedenfalls nicht früher hervortreten, als es der ge genwärtige unbeschränkte Herrscher von Frankreich seinen vermeintlichen per sönlichen Interessen entsprechend halten möchte, der englischen Allianz offen zu entsagen. Denn nie seit der Negierung Ludwig'S XiV. dürfte der be- kannte Ausspruch dieses Regenten: „k-u kranco o'ost moi", mit dem er auch sein Reich während des Spanischen Successionskriegs an den Rand des Verderbens führte, ein« richtigere Anwendung gefunden haben als gegen wärtig, wo die Geschicke Frankreichs ausschließlich dem durch keine konstitu tionelle C-ntrole beschränkten Willen seines Beherrschers untergeordnet sind. Die Wendung der französischen Politik begann bereits zur Zeit des Pariser CdNgresstS, wo die auffällige.Courtaisie deS Trafen Orlow in dem Kaiser Napoleon zuerst eine politische Gesinnungsveränderung Hervorgernfen zu ha- ben schrint, di« ihn veranlaßte, in den Friedenskonferenzen die russischen Zn- tevessen möglichst zu schonen und lheilweise sogar zu begünstigen. Vielleicht mochte auch das unabweisliche Gsfühl, daß «S ihm bei fernerer Fortdauer des innigen Bündnisse- mit dem konstitutionellen England, wo die öffent liche Meinung alle Verhältnisse beherrscht, schwierig werden möchte, die ge- genwärtige iRtgierungSform in Frankreich unverändert aufrechterhalten zu können, M Hinneigung zu Rußland bewogen haben. Die russische Regie- rung-n-hm diese iious. prooückös bereitwilligst auf, die derselben die Bahn erofften konnten, wi«d«izu einem Theil des verlorenen Einflusses in den orientalisch«« Angelegenheiten zu gelangen. Der am 15. April zwischen Frankreich, England und Oesterreich abgeschlossene Vertrag zur strengen Dunhsüfstung und Aufrechterhaltung der am 30. März festg«st«Utcn Frie- denSstipulationen that der zu jenem Zeitpunkt noch verdeckten Annäherung Frankreichs, ungeachtet einer scheinbar eingetretenen augenblicklichen Erkäl tung, durchaus keinen Eintrag. Denn gerade von diesem Moment traten jene Fragen erst in den Vordergrund, welche die gegenwärtig in den Ver- Handlungen herrschenden Schwierigkeiten hervorgerufen, die den Ernst dec Situation begründen. Zu den nun plötzlich hervorgetretenen Misverständ- niffen gaben vornehmlich drei wichiige Punkte zunächst die Veranlassung. Diese beziehen sich auf hie durch die FriedcnSacte festgestellte und bisher von Rußland verwrigerte Abtretung Belgrads an die Moldau und Räumung der Schlangeninsel, ferner auf die künftige Organisation der Donaufürsten thümer und die noch nicht erfolgte Räumung und verlängerte Besetzung derselben durch die österreichischen Truppen. Die erste dieser Fragen bezüg lich der > Herausgabe. Bolgrqds iist eine sehr ernste und jedenfalls schwierig zu lösende, indem dä- russische Cabinet bekanntlich behauptet, .daß jenes nach dem Paris« Tr-itat abzutretende Doigrad nicht die Stadl, sondern ein unbedeutendes Dorf gleichen Namens seitwärts vom See Aalpuk sei. Durch die Annahme dieser Ortsverwechselung würde die künftige Begren zung «ine veränderte Richtung erhalten und das an die Moldau abzutre- tende Gebiet beträchtlich verkleinert werden, Rußland aber durch die Fest stellung einer derartigen Grenzlinie offenbar einen wesentlich begünstigenden strategischen Vortheil erlangen. ES erscheint daher völlig erklärbar, daß die englische Regierung energisch auf der Herqusgabe de- in dem Friedens»«- trage bezeichneten Platzes besteht und sicherlich die definitive Verweigerung der- ftlllen zu einem neuen (ikwus belli «heben würde. Ueber die eigentliche Vera» lössnng, welche dtp. russischen Diplomatie die willkommene Gelegenheit geboten, diese- MöSvMändniß'hervorzucufen und geltenh-gu machen, ist.jedoch in k«m«. kech-wtrth« Weift «sich,» NähereSin di« Oeffentlichkeit gelangt Selbst die ge- wöhnlichsowohlunt«richtete «nglische Press?gab hierüber nur einige dunkle An- beutungeü. Wir befinden uns jedoch in der Lage, den geheimnißvollen Schleier zu lüften, welcher bisftht die nähere und eigmtliche Veranlassung dieses un vorhergesehenen JncidenzfalleS umhüllte, der nun so erhebliche und ernste Schwierigkeiten veranlaßt. Der Ursprung desselben datirt schon von dem Zeit- punkt der Pariser Conferenzen. Als cs sich nämlich uni die Bestimmung der Grenzregulirung handelt«, wurde von dem Grafen Malewski zu diesem Ende eine Karte vorgelegt, die aus dem Depot des französischen General- stades entnommen war, auf welcher jedoch nur die zur Abtretung bestimmte Stadl Bolgrad und keineswegs das nun von Rußland hierzu angegebene Dorf sich ausgezeichnet befand. Die-hierüber gemeiiischaftlick gefaßten Beschlüsse wurden sodann zu dem bekannten FriedenSartikel erhoben, ohne baß jedoch, wie eS natürlich und selbst dem üttichen diplomatischen Verfahren gemäß gewesen, die den Grenz- und AbtretungSbestimmungcn zugrunde liegende Specialkarte von sämmtlichen theilnehmenden Bevollmächtigten als eine Be- legsurkundc unterzeichnet worden wäre. Damit würde man die Erhebung irgendeiner Einwendung und Schwierigkeit gegen den bezüglichen Artikel vor aussichtlich beseitigt haben. Wir wollen keineswegs in Frage stellen, inwie fern dieser Vorgang eine wahrscheinliche Folge der Eile gewesen, mit wel cher die Congreßmilglieder sichtlich bemüht waren, ihre Aufgabe möglichst zu beschleunigen, um am 30. März das große Friedenswerk mit der historisch gewordenen Napoleonischen Adlerfedcr unterzeichnen zu können, oder ob derselbe der in jener Zeit bereits bemerkbaren Hinneigung des Grafen Walewsti zu Rußland zugeschrieben werden dürfte. Jedenfalls aber bietet diese nicht in Abrede zu st«llende bedenkliche diplomatische Untrrlassungssünde einen ebenso augenscheinlichen Beweis für «die Gewandtheit der russischen Diplomatie, die in der Wahl ihrer Mittel, insofern sic m«»r dcn beabsichtigten Zweck zu fördern vermögen, bekanntlich nicht allzu ängstlich ist, als für das« bei- nahe-kindliche Vertrauen, -welches die «hrcnwerthrn Beisitzer an dem «uro- päischcn FriedenSarrvpag der unbedingten Aufrichtigkeit des Petersburger Ea- binetS zu ertheikn für geeignet hielten. Was-nun-,den zweiten Punkt bezüglich der künftigen Organisation der beiden-Donaufürstenlhümcr betrifft,- so. gewannen die Schwicrigkeitcn.hierüber, welche auch -die frrnern Verwickelungen über die längere Fortdauer der Be setzung dieser Länder durch diewsterreichischen. Truppen Hervorrufen mußten, mit dem Abschluß des. Friedens. Denn von diesem Augeublick an wurden sogleich alle erdenklichen Umtriebe und Jntriguen in Bewegung gesetzt, um für die Vereinigung der Moldau-und Walachei und Erhibung zu einem selbständigen Reich mit einrm Prinzen aus irgendeinem regierenden Fürstenhaus« alSStaats- oberhaupt möglichst zu wirken. -Kein Mittel wurde.verabsäumt, um dieses Prostet zu verwirklichen, das, von dem französischen Cabinet offen begünstigt, Rußland augenscheinlich den Eingang zu erneuertem Einfluß in die ver wundbarsten Verhältnisse des von demselben mit schwer«» Opfern befreiten türkisch«« Reichs eröffnet. haben würde. Die zu diesem Zweck in Bewe gung gesetzten Hebel und in-diesen Ländern, wenn auch nur-vorübergehend, künstlich h«vorg«ufcnen -Agitationen, wie die in Paris beifällig aufg«wm menen Adressen der rumänisch«« Studcnlendeputationen, sind zur Genüge bekannt. Diese Bestrebungen, die, wenn sie in irgendein« Weift «ine» ,Er folg erlangt, nicht-nur die gewichtigsten Interessen der Pforte-und »orzüg lich ihre Supremat» rechte auf die Moldau und Walachei gefährdet,, sondern nachgerade die Bestimmungen des Pariser Vertrags illusorisch gemacht hät ten, mußten nothwcndig den entschiedensten Widerstand bei der englischen und österreichischen Negierung Hervorrufen, welcher zu der mit dieser Frage in innigster Verbindung stehenden verlängerten Oceupation der Donaufür- stenlhümcr durch die österreichischen Truppen und dem fernem Verbleiben der englischen Flotte im Schwarzen Meere, dem dritten streitigen Punkt, die unmittelbare Veranlassung gegeben. Der Kampf dieser widerstreiten den Interessen wurde einerseits in Konstantinopel- durch die Diplomatie geführt, welcher nun den plötzlichen und unerwarteten Sturz , Ali Pascha'- und di« abermalige ErnennungReschid-Pascha's zum Gpoßoezi« herbciführtc. Hr. de Thouvcnel und Buteniew hatten «- offenbar mit einem Stäckern zu thun, und Lord Stratford de Rcdcliffe bethätigt«, um« Mitwirkung des begabten österreichischen Jnternuntius, in dieser Gelegenheit abermals seine ganze diplomatische Meisterschaft. Weniger glücklich wurden diese Fragen jedoch in der Oeffentlichkeit behandelt. Die Polemik, welche die officiellen, offiliösen und inspirirten Organe von Frankreich und Oesterreich miteinan- der bi- zum ausgesprochenen Dementi führten, glänzte keineswegs weder durch Maß, noch stilistische Correccheit und Eleganz. Unwillkürlich wird man durch diese wechftitig erthcilten Denegationcn an des unsterblichen Shqkjveare-y^ xqu iillo .it" erinnert, in-welchem die sieben Gradationen deö Widerspruchs bis zur entschiedenen Lüge so geistreich aufgezählt und erklärt werden. Jedenfalls aber trat in dieser Gelfgenheit die unermeßliche und nicht mehr zu beseitigende Macht der Presse, von welcher selbst die