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Mittwoch. —— Rx 272. — 29. November 18LG. Di« Zeitung erscheint mit Ausnahme des Montag« täglich und wird Nachmittags 4 Uhr aus» gegeben. Preis für das Vierteljahr I'/, Thlr.; jede einzelne Nummer 8 Ngr. Deutsche Allgemeine Zeitung. «Wahrheit und Recht, Freiheit und GesetzI« Zu beziehen durch alle Postämter des Zn- und Auslandes, sowie durch die Erveditlon in Leipzig (Querstraße Nr. 8). Jnserttonsgebühr für den Raum einer Zeile 2 Ngr. Zur Bewegung gegen die Kirchenzucht in Süddeutschland. HHAus Württemberg, IS. Nov. Seit ich in meinem letzten Briefe die ersten Mittheilungcn über die reaktionären kirchlichen Bestrebungen ge macht habe, wie sie auf den dresdener Confcrenzcn offieiell Bein und Fleisch angenommen hatten, ist in der protestantischen Kirche Süddeutsch, lands und namentlich auch Württembergs eine tiefe Beunruhigung des pro- tcstantischen Bewußtseins zum Ausbruch gekommen. Die bisjeht sich zei genden Consequenzen geben denjenigen Urhebern der dresdener Beschlüsse Recht, welche den reaktionären Fcldzugsplan zu Wiedereinführung von Kir chenzucht, Privatbeichte rc. möglichst zu entschleiern bestrebt gewesen sind. Der Stein, welcher durch Veröffentlichung der dresdener Beschlüsse in das ruhige Wasser des protestantischen KirchenfriedcnS geworfen worden, beginnt in weiten Kreisen seine Wellenlinien zu ziehen, und speriell für unser Land hat es den Anschein, als ob selbst die Kirchenzuchtbefliffengewesenen der ober» Kirchenleiter bereits froh wären, wenn sie mit gutem Anstand aus dem getrübten Fahrwasser wieder weg wären. Unsere selbständigen Preß- organe.haben mit seltener Einmüthigkeit und unter seltener Zustimmung der allermeisten selbst Ärchlichgrsinnten Gebildeten die Bestrebungen angegriffen, welche selbst unter einem großen Theil der protestantischen Geistlichkeit au Widerspruch und selbst Proteste stoßen. Die Presse hat die Sache an den rechten Punkten gefaßt. Sie hebt namentlich hervor, daß principiell von der Zulässigkeit der Kirchenzucht nur in einer freien, nicht aber in einer mehr oder weniger staatskirchlichen protestantischen Religionsgemeinschaft die Red« sein könne. Weiter wird bemerkt, was die protestantische Kirche für einen Nutzen dabei haben könne, wenn sie aus blos Indifferenten Heuchler mache. Die Kirche werde zweierlei Maß und Recht haben, ein blindes und milde- gegen die obersten und obern Kreise, ein anderes gegen die spendefähigen, ein anderes gegen d»c spendeleeren Hände. Au welcher Klatsch sucht, zu welch gemeiner Befriedigung der niedersten Leidenschaften auf dem Lande, in Fällen, welche der Censur der öffentlichen Meinung entgehen, die Handhabung der kirchlichen Zuchtvuthe führen werde? Ein Blatt wirst mit Recht die Frage auf: wie eS wol Goethe, Schiller, Lessing, Fichte bei einem geistlich-protestantischen Inquisition-verfahren Kirchenzucht übender Pfarr- gemeinderäth« ergangen sein würde? Gewiß hätte viele der heutigen Eiferer der Zorn für des Herrn Haus auch diesen geistigrn Nativnalgeneratoren gegenüber gefressen, weiche, ihr VM in eine freie geistige, statt äußere geistliche Zucht gcrwmme« haben. Besonders aber indignirt die Art, wie man sogenannte gute Rechte alter Zucht Md alten Kirchensinns „beleben und erhallen" will. Wir meinen jene rohen Sitten gegen die Magdalenen, die man als Bräute oder auf der kirchlichen Schänd - und Lästerbank einem zweiten geistlichen Fall unterwerfen will) dies« Titten sollen belebt werden, sollen das Rechte und Gute sein, weil sie in Gemeinden restweise sich er halten haben, welche notorisch um einige Generationen in der Gesittung zurück sind I Das Unsittliche ist das Sittliche! Di« öffentliche Meinung ist namentlich in dieser Beziehung sehr ängstlich, wie sich die Zucht in der Praxis machen würde; Henn von der Zucht der Magdalenen ist nur Ein Schritt zum Muckcrthum! Auch fragt man billig, ob es geeignet sci, versittlichend auf das Volk zu wirken, wenn man dessen sittliches Selbst- bewußtscin geflissentlich herunterseht, ihm ewig von weitverbreiteten Lastern, Asoti«, frecher Lästerung rc. spricht. Weiß man nicht, daß zu Zeilen die Strafen die Verbrechen gerade erzeugt Hatzen? Und diese Herren mögen doch um einige Generationen oder Jahrhunderte zurückgehen und aufrichtig, die Hand aufs Herz, Vergleichungen anstelle»; müssen sie dann nicht den jetzi- gen sittlichen Zustand des Volks als einen sehr gehobenen anerkennen? In der Dhat, di« Zuchtruche ist nicht das Mittel für die Geistlichen, sich in das Wi»hlwoll«n des Volks wiodrreinzusetzen, um dessen Pastoration man sich weniger kümmerte, als man in fetter Pfründe faß und lebte und leben ließ. Freilich ins ksvr«t! Die. Geistlichkeit beginne die Reform an sich, gebe sich inniger der freien Seelsorge, der freien, auf persönlicher Vertrauens- würdigkbit beruhenden Zucht hin, so wird sie die sich selbst Pastorirenden, die darum nicht unkirchlich zu sein brauchen, nicht verletzen und die der seelsorgerischen Pflege Bedürftigen in freier und darum wirksamster Weise geistig berathen. Dies ist, ich kann die Versicherung geben, der wahre Mei- nungsauSdnlck des überwiegend«« Theils d«S protestantischen Württemberg, nicht blos Derjenigen, welche nach dem Ausdruck der Augsburger Postzei tung „zur Naturkirche deS MaurerthumS" gehören, sondern auch Derjeni gen, welch« aufrichtig protestantisch-kirchlichgesinnt sind und «S mit Entrü stung ansehen, wie sich di« Ultramontanen über dm protestantischen Zwist vergnüglich Vie Hände reiben und dem „nichtmaurerischm Lhetl oer evan» gelischen Kirche" bereits die Thor« der „stark«»", der „sehnsüchtig ihrer har- renden MUttvrkirch«" weid öfftwn. Man wolle nämlich nicht v«rgessm, daß es Sin hiesige» uftramontancs Blatt gewesen ist, welches zuerst die dresdener Geheimnisse im Wortlaut dem staunenden Publicum geoffenbart hat. Ich bemerkte oben, daß unsern obern Kirchcnleitern über dem angefochten Feuer etwas unbehaglich zu werden scheine. So wird ein dieser Tage im Schwä bischen Merkur erschienener Artikel allgemein aufgefaßt, der vom Oberhof- Prediger v. Grüneisen, dem württembergischcn Dclegirten auf den dresdener Con- ferenzen, verfaßt und von der gegenwärtig versammelten Landessynode (Prä laten) approbirt worden sein soll. ES wird darin in einer sch«inbaren „Be richtigung" der gegnerischen Zeitungsartikel auöeinandergesetzt, wie bisjept in Angelegenheiten der Kirchenzucht nur vorberathende Schritte in unsorm Lande geschehen seien, und weiter bemerkt: „Weiteres wird voraussichtlich, zumal nachdem «ine auswärts entstandene Aufregung (Nürnberg) auch bei uns beunruhigend eingewirkt hat, nicht ohne die reiflichste Ueberlegung auch in der Zukunft geschehen. Jedenfalls wird erwartet werden dürfen, daß gänzliche Ausstoßung aus der Gemeinschaft der Kirche (die große Excom- mum'eation), deren sich die katholische Kirche noch stets bedient und die evan gelischerseits nicht einmal vor 12 Jahren bei dem Hervortreten der bekan» tcn gräßlichen Unsittlichkeitcn in der Gemeinde L. zur Anwendung gekom- men ist, auch fernerhin unterbleibe." In Betreff der Privatbeichte wird ferner bemerkt: „Jetzt könnte es sich, wenn die Frage bei uns zur Anre- gung käme, was aber bis heute noch nicht geschehen ist, mol nur davon handeln, die Freiwilligkeit der Privatbeichte mittels persönlicher Anmeldung und mit Vermeidung alles bloßen Formalismus wieder mehr in Uebung zu bringen." Das heißt ziemlich deutlich Chamade geschlagen. Hoffen wir, die Sache sei bei uns nicht blos aufgeschoben, sondern aufgehoben. Die Eiferer dürf ten einen Geschmack davon bekommen haben, wie dürr der Boden ist, auf dem sie säen wollen, und wie leicht ihnen ihre Hütte über dem Kopfe zu sammenbrennen könnte. Die vergängliche Freude und Hoffnung der Ultra- montanen wegen der protestantischen Wirren sollte unsers Erachtens selbst jene protestantischen Päpstling«, welche der Eifer für den Herrn führt, et was stutzig zu machen geeignet sein! jP r ss ß s ch! anK. — Aus Süd deutsch! and, 15. Nov. Die heftige Aufwallung der of- ficivsen Organe Englands, Frankreich- und Oesterreichs beginnt sich zu mäßigen und zu legen. Die gegenseitigen Recriminationen werden milder und seltener. Ein allmätiges Cinlenkrn ist wahrnehmbar. Die englische Presse insbesondere führte die ungestüme Pvlemik gegen Frankreich und Rußland mehr wegen des Eventuellen als Aktuellen; sie hatte weniger eine repressive als ein« präventive Natur. Ein Bündniß zwischen beiden Staaten war besorgt. Rußland trat England zu früh wieder actio auf den politischen Schauplatz. Ein englisches Blatt bezeichnete die vorherrschende Stimmung in England treffend mit-der Aeußerung, daß der Friede um ein Jahr zu früh abge schlossen worden sei. England wollte Rußland gedemüthigt, geschwächt, für längere Zeit auf eine passive Rolle beschränkt wissen. Frankreich hatte seine guten Gründe, einen baldigen Frieden zu wünschen. Oesterreich konnte nicht in rechter Zeit zum Entschlusse kommen, im Sinne von England sich activ am Kriege zu betheiligrn. Jetzt, wo die Freundschaft mit Rußland doch verscherzt ist, mag es wol einsehen, daß seine Zwiltcrstellung zwischen Krieg und Frieden eben doch ein Fehler war. Rußland „sammelt sich" und bleibt eine gewaltige Macht, «in unheimlicher Nachbar. Der Friede ist nun aber einmal da. Rußland „schmollt nichts; es kennt de« „Platz, welchen ihm die Vorsehung in Europa angewiesen hat" und — nimmt ihn wieder ein. Wer kann ihm die« verargen? Die Schuld liegt dort, von wo aus es Rußland möglich gemacht ward, so schnell wieder fein« Lhä- tigkeit nach außen zu verwenden und mitzusprechen, wo es glaubt, seine Meinung anssprechrn zu müssen. War auch das Debüt ein misglücktes, >« ieht sich rührig und schlau nach der rechten Rolle um. Seitdem die of- ceiöse Presse mehr zur Raison gekommen ist tritt selbst dk MmcS geschme:'» >iger auf, indem si« z» B. erklärt, daß von einem Triumph, der englischen Politik über die französische in Konstantinopel keine Rede ftin könne; nur der russische Jntligu«»>geist habe dort eine Niederlag« kttitttn und cs lüge den» englischen Volke di« französische Allianz so sehr wie jemals am Her zen. Der Moniteur delavouirte stinerftitS d«»iEonsti«utionnel und man pricht, weil dieser voll dem Grafen Walewski für sein entschiedene» Plai- >«yer gegen die OekupationSverlängerung inspirirt gewesen sein soll, von dem Rücktritt diese- Minister», Ist Hr. v. Ptrsigny sein Nachfolger, so ist der englisch- französischen Allianz ein« desto größere Conression gemacht. Es ch«int, daß in Absicht auf die Räumung der Donaufürstenthümcr und deS Schwarzen M«er«s eins vorläufige Verständigung versucht w«rde, die dann bti den zweiten Pariser Conferenzen zum Definitivum erhoben würde. iFrant« reich besteht, unterstützt von Rußland, auf dem Zusammentritt dieser Con» 'erenz«n. Einem Gerücht züsolg« will sich auch England dazu »orstehen, vielleicht mit dem Vorbehalt, baß sie nach seinem Muster zugeschnitten wer den. Sonderbar und „gutem Glauben" kaum entsprechend wäre jedoch