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Donnerstag. Rr. 237. 9 Oktober 185«. Enipzib' Die Zeitung erscheint mit Ausnahme des Montags täglich und wird Nachmittags -1 Uhr auS- gegeben. Preis für das Vierteljahr 1'/, Thlr.; jede einzelne Nummer 2 Ngr. Deutschland. ^--Aus Süddeutschland, 6. Oct. Dir neuesten „brennenden Fragen" haben dir Verträge von 1815 wieder mehr in den Vordergrund gestrllt. Es dürfte nicht überflüssig sein, «inen kurzen Rückblick auf Das zu werfen, was im Verlaufe der Zeit auS diesen Verträgen dahingefallen ist. Am 30. Mai 1814 wurde, „um den langen Unruhen in Europa und dem Unglück der Völker ein Ende zu machen, ein dauerhafter, auf eine gerechte Bertheilung der Kräfte unter den Mächten gestützter Friede" mit Frankreich abgeschlos sen, das sich „wieder unter die väterliche Regierung seiner Könige gestellt und so Europa ein Pfand von Sicherheit und Festigkeit gewährt" habe. Was ist von alledem im Jahre 1856 noch übrig? Schon der Art. 1 der Wiener-Congreßacle warf den Grundsatz der gerechten Kräftevercheilung um. Der nämliche Art. 1 überließ an Rußland das Herzoglhum Warschau als Königreich Polen und sicherte den Polen, welche Unterthanen von Ruß- land, Oesterreich und Preußen sind, Ständeversammlungen und nationale Einrichtungen zu. Seit 1830 ist Polen nur noch eine russische Provinz und so ziemlich russificirt. Wie eS mit der Zusicherung steht, das ist be kannt. Der Art. 6 der Wiener-Congrcßacte erklärte die Stadt Krakau und deren Gebiet auf ewige Zeiten als Freie Stadt unter dem Schutz von Ruß land, Oesterreich und Preußen. Im Art. 9 verpflichteten sich diese drei Mächte, zu jeder Zeit die Neutralität der Freien Stadt Krakau und deren Gebiet zu respcctiren und respeclircn zu lassen, mit dem Beifügen, daß keine bewaffnete Macht unter irgendeinem Vorwande hineingelegt werden dürfe. Seit 1846 ist Krakau nebst seinem Gebiet ein österreichisches Be- sttzthum. Durch den Art. 23 erlangte der König von Preußen von neuem die Souvcränetät und das Eigenthum des Fürstenthums Neuenburg, wel ches hinwieder im Art. 75 als Canton mit der Schweiz vereinigt wurde. Seit 1848 betrachtet sich Neuenburg nicht mehr als preußisches Fürsten- chum, sondern nur noch als schweizerischer Canton. Der Art. 65 schuf das Königreich der Niederlande. Im October 1830 trennte sich Belgien aus dem Verbände mit Holland los und schon am 12. Dec. war die Unabhän gigkeit und Selbständigkeit des neuen Staats von der Ecsandtenconferenz der fünf Großmächte anerkannt. Am 26. Sept. 1815 wurde der „Heilige Bund" zwischen den Monarchen von Oesterreich, Preußen und Rußland abgeschlossen. Alle Fürsten von Europa, den König von England, dann die nicht zum Beitritt eingeladenen Papst und Sultan ausgenommen, nah men theil daran. Der Troppau-Laibacher Kongreß der drei Stifter in den Jahren 1820 und 1821 wandelte den Charakter des Bundes um; die Allianz zwischen England, Frankreich und Rußland bezüglich Griechenlands im Jahre 1827, sowie die Quadrupleallianz zwischen Frankreich, England, Portugal und Spanien im Jahre 1834 zerbröckelten ihn selbst, bis der Anschluß Oesterreichs an die Westmächte im Anlaß der orientalischen Frage die gänzliche Auflösung vollendete. Der zweite Pariser Friede vom 20. Nov. 1815 bestätigte, soweit er nicht änderte, den Inhalt des ersten Pariser Friedens und der Wiener-Congreßacte. Diese Bestätigung konnte nicht verhüten, daß alles Das geschah, was oben angedeutet wurde. Zwar hieß cs im Eingang, daß die Mächte vom Wunsche beseelt seien, die in Frankreich glücklich wicderhergestellte Ordnung der Dinge durch die unver- lletzliche Aufrechthaltung der königlichen Autorität und die Wiedereinsetzung der konstitutionellen Charte zu consolidiren; allein im Jahre 1823 warf das nämliche Frankreich, indem es auf dem Congrcß zu Verona im Octo ber 1822 die Grundsätze deS Troppau-Laibachcr Cougresses sich aneignete, mit der Gewalt der Waffen die spanische Verfassung um und stellte damit auch seine Charte und das constitutionelle System in Frage. Am Tage des zweite» Pariser Friedens (20. Nov. 1815) verpflichteten sich Oesterreich, Englaiid und Preußen durch ein enges Bündniß, die immerwährende Ausschließung Napoleon Bonaparte's und seiner Familie vom französischen Throne in Kraft zu erhalten und die revolutionären Grundsätze zu be kämpfen, welche, nachdem sie der Wiederkehr Napoleon's zur Stütze ge dient, noch in anderer Gestalt Frankreich zerrütten und die Ruhe der Staa- «en bedrohen könnten. Indessen waren die Machte nicht im Stande, die Zulirevolution im Jahre 1830 und die Februarrevolution im Jahre 1848 sammt ihren Rückwirkungen auf andere Länder zu verhüten oder von sich auS zu bewältigen. An die Stelle de- rcstaurirtcn Königthums der ällern Linie der Bourbons trat die Julimvnarchie der Familie Orleans, um der Dynastie Napoleon's Platz zu machen. Seit dem 2. Dec. 1852 ist Lud- wig Napoleon III. Kaiser der Franzosen. England war der erste Staat, der ihn. anerkannte. Ganz Europa folgte allmälig, Rußland zuletzt, seinem Beispiele. VoranstehendeS dürfte genügen, um darzulegen, welche eigen- chümliche Bewandtniß>es mit den Verträgen von 1815 hat. Das Aache ner Protokoll vom 15. Nov. 1818 über das innige Bündniß zwischen Eng land, Oesterreich, Preußen, Rußland und Frankreich zum Behufe der Er- Haltung eines, auf die gewissenhafte Achtung dec in die Vertrage (von 1814 Zu beziehen durch alle Postämter des In- und Auslandes, sowie durch die Erpedition in Leipzig (Querstraße Nr. 8). JnsertionSgebühr und 1815) niedergelegten Verpflichtungen und der sämmtlichcn davon ab hängigen Rechte, gestützten allgemeinen Friedens, dann die aachener Decla ration der nämlichen fünf Mächte vom gleichen Tage über jenes „hehre Bedürfniß", mit ihrem Gelöbniß, die Grundsätze des Völkerrechts auf das strengste beobachten und der Welt das Beispiel von Gerechtigkeit, Eintracht und Mäßigung geben zu wollen, auf daß desto sicherer die innere Wohl fahrt der Staaten gedeihen und das Gefühl der Religion und der Moral Wiederaufleben könne; auch diese beiden Acten theilten das Schicksal der Urkunde deS „Heiligen Bundes". Preußen. -.. Berlin, 7. Oct. In einzelnen Correspondenzen fin det man die dänische Ministerkrisis in dem Sinne dargestellt, als ob dieselbe veranlaßt wäre durch das Mislingen der Mission der Herren v. Bille- Brahe und v. Bülow nach Berlin und Wien. Wir wünschten, daß dem wirklich so wäre; die Dinge stehen jedoch nicht so. Wäre die MinisterkrisiS eine Folge des MislingenS jener Mission, so hätte vor allen Dingen der Minister für Holstein und der Veranlasser alles Dessen, was die deutschen Mächte zu klagen Veranlassung gegeben hat, Hr. v. Scheele, seine Ent lassung fodern müssen. Hr. v. Scheele hat dies indessen nicht gethan; er ist vielmehr gerade der Einzige, der seine Entlassung nicht begehrt hat. Au ßerdem ist auch genugsam bekannt, daß die eigentliche Veranlassung zur Mi nisterkrisiS lediglich in finanziellen Ansprüchen zu suchen ist, welche für die Gemahlin des Königs von Dänemark, die Gräfin Danner, gemacht werden und welche sämmtliche Minister, mit alleiniger Ausnahme des Hru. v. Scheele, vor dem Reichstage nicht vcrtheidigcn zu können glaubten. Unter solchen Umständen scheint uns der seltsame Hinweis auf eine angebliche, je doch in Wirklichkeit gar nicht bestehende Verbindung der Ministerkrisis mit dem Mislingen der Mission der Herren v. Bille-Brahe und v. Bülow wol nur einen hinhaltenden Beruhigungszweck für ungeduldige Gemüther in Deutschland zu haben und darum wieder ein Beweis mehr zu sein für die Nichtigkeit Dessen, was wir über die Situation der holsteinischen Angele genheit, mit Rücksicht auf deren Behandlung am Bunde, in einem frühern Schreiben zu bemerken Gelegenheit genommen haben. — Die Neuenbur ger Frage wird von unsern Tagcspolitikcrn recht wacker ausgebeutet und cs vergeht fast kein Tag, wo nicht das eine oder andere Neue über die Sache berichtet wird. Allen den betreffenden Angabcn gegenüber ist indessen die größte Vorsicht zu empfehlen. Seilens der Regierung sind bisjetzt nur die ersten Einleitungen zu einer geeigneten Behandlung des Gegenstandes getroffen worden, und ein Mchrcs hat bisjetzt, mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit, auch unmöglich noch geschehen können. Ueber die Art und Weise, wie man jetzt, nachdem die ersten Einleitungen getroffen sind, in positiver Weise weiter vorzugchen gedenkt, sind die Entschließungen noch zu fassen. Diese Entschließungen dürften indessen wol kurz nach der Rückkehr des Kö nigs und des Ministerpräsidenten gefaßt werden. Wie cs heißt, soll zu die sem Ende auch der diesseitige Gesandte in Paris, Graf Hatzfeld, hicrherkom- men und dürfte dessen Ankunft schon nahe bevorstehen. Die Hierherreise des Hrn. v. Sydow ist wegen der persönlichen Anwesenheit des Königs in Sigmarin gen überflüssig geworden. Eine Ucberwcisung der Sache an die Pariser Cvnfercnz dürfte, wie auch schon früher berichtet, schließlich wol daS Wahrscheinlichste sein. — Wie Sie aus den hiesigen Blättern bereits ersehen haben werden, ist. der Vicepräsidcnt der Obcrrcchnungskammer, Hr. Seiffart, am 4. Oct. vom Disciplinarhofe zu AmtSentscßung ohne Pension verurtheilt worden. (Nr. 236.) Es bleibt nun zunächst noch die Sache des Hrn. Lindenberg übrig, für welche, wie wir vernehmen, auf die nächste Woche ein neuer Termin in Potsdam anbcraumt ist. Da nun auch das Gerücht, daß der Gencraladju- tant v. Gerlach den Staatsdienst verlassen werde, von allen Seiten immer stärker bestätigt wird, so dürfte die ganze Potsdamer DepcschendicbstahlS- gcschichte vor dem Zusammentritt der Landesvertretung wol ihre Erledi- gung gefunden haben. — Am Criminalgerichte wird heute und in den nächsten Tagen ein Bild des höchsten Jammers und Schreckens ent rollt. Der Tapezierer Schulze war immer ein fleißiger und sparsamer Mensch; aber wie sauer cr es sich auch werden ließ, so konnte er seine vier Kinder zuletzt doch nicht mehr ernähren. Dabei war die Miethe fällig und der Wirth wollte ihn, da cr nicht zahlen konnte, auf die Straße setzen las sen; auch einige Gläubiger drängten den armen Mann hart. Sckulze sah keinen Ausweg mehr und in seiner Verzweiflung beschloß er, sich das Le ben zu nehmen. Aber sein« vier kleinen Kinder, meinte er, könnte cr dock nicht hungernd und im Elende zurücklasscn. Und nun geschah eine That des Entsetzen-. Er brachte zuerst seinen Kindern, dann sich selbst tödtlichc Wunden in den Hals bei. Drei Kinder starben schon nach wenigen Stun den, eins und der Vater selbst wurden durch ärztliche Kunst gerettet. Schulze steht nun heute vor dem Schwurgericht. Er leugnet nicht. Na- türlich bleibt sein Verbrechen unter allen Umständen das furchtbarste; aber der sociale Jammer, der sich in den Motiven zur That kundgibt, har doch