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Hanslick, Brahms-Verehrer und Wagner-Feind, beging mit seiner Rezension des Ischaikowski-Konzertes wohl einen seiner kapitalsten Irrtümer, tr scnriep u. a.: „Da wird nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebleut. Ob es überhaupt möglich ist, diese haarsträubenden Schwierigkeiten rein her auszubringen, weiß icn nicht, wohl aber, daß Herr Brodski, indem er es ver suchte, uns nicht weniger gemartert hat als sich selbst . . . Ischaikowskis Violin konzert bringt uns zum erstenmal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken(l) hört." Haarsträubend, schauerlich mutet uns heute dieses Fehlurteil Hanslicks an, das der Komponist übrigens jederzeit auswendig autsagen konnte, so sehr hatte er sich darüber geärgert, wahrend das Konzert inzwischen längst zu den wenigen ganz großen Meister werken der konzertanten Violinliteratur zählt. Das Werk wird durch eine kraft volle Männlichkeit im Ausdruck, durch eine straffe Rhythmik gekennzeichnet und ist betont musikantisch ohne Hintergründigkeit, Pathos oder Schwermut. Die Quellen, aus denen Tschaikowski hier u. a. schöpfte, sind das Volkslied und der Volkstanz seiner Heimat. Betont durchsichtig ist die Instrumentation, die beispielsweise auf Posaunen verzichtet. Aus der Orchestereinleitung wächst das großartige, tänzerische Hauptthema des stimmungsmäßig einheitlichen ersten batzes (Allegro moderato) heraus, das dem ersten Teil aes Konzertes, teils irn strahlenden Orchesterklang, teils in Umspielungen der Solovioline, seine faszi nierende Wirkung verleiht, während das zweite, lyrische Thema demgegenüber etwas in den Hintergrund tritt. Auf dem Höhepunkt des Satzes steht eine virtuose Kadenz des Soloinstrujmentes, dem das ganze Konzert überhaupt höchst dankbare Aufgaben bietet. Der zweite Satz (Andante) trägt die Überschrift: Canzonetta. Kein Wunder, daß das Hauptthema innigen Liedcharakter besitzt und die Stimmung dieses Satzes weitgehend trägt, ohne dem geschmeidigen Seitenthema größeren Raum zu geben. Unmittelbar daran schließt sich das Finale (Allegro vivacissimo) an, das vom Solisten ein Höchstmaß an geigerischer Virtuosität in Kadenzen, Passagen, Flageoletts usw. verlangt. Das formale Schema des Satzes ist etwa mit ABABA zu umreißen. Beide Themen haben nationales russisches Profil. Das erste wächst aus der übermütigen Orchestereinleitung heraus, das zweite, tanzartige, wird von Baßquinten begleitet. Unaufhörlich stellt der Komponist die Themen vor, elegant und formgewandt variiert. Strahlend endet der temperamentgeladene Schluß satz des Konzertes, das zweifellos eine der überragendsten Kompositionen Tschai kowskis ist. Das 1910 in Paris durch das Djagilew-Ballett uraufgeführte Ballett „Der Feuervogel" gehört zu den beliebtesten Schöpfungen Igor Stra winskys, des am 6. April 1971 im Alter von 89 Jahren in New York ver storbenen Meisters. Die aus diesem Werk zusammengestellte Konzertsuite hat sich wegen ihres bestrickenden Klangzaubers und ihrer lyrischen Verhalten heit, die mit barbarischer Wildheit wechselt, einen Stammplatz im Repertoire vieler Orchester der Welt errungen. Von der Suite gibt es drei Fassungen: die von 1910 für sehr großes Orchester, die heute erklingende von 1919 für mitt leres Orchester, ganz dem Zuge der Sparsamkeit nach dem ersten Weltkrieg und der Entwicklung Strawinskys folgend, und die von 1945 für normales Orchester mit einigen Instrumentationsretuschen. Die Fabel des Balletts folgt einem russischen Märchen vom Prinzen Iwan, der im Zaubergarten des Menschenfressers Kastschei dem Feuervogel begegnet, ihn einfängt und gegen Überlassung einer Feder wieder freiläßt. Gefangene Prinzessinnen tanzen im mondbeschienenen Park, Prinz Iwan verliebt sich in eine von ihnen, der er trotz aller Warnungen ins Schloß folgen will. Der Zauberer Kastschei tritt ihm entgegen, um ihn in Stein zu verwandeln. Der durch die Feder herbeigerufene Feuervogel verrät dem Prinzen das Lebensgeheimnis des Zauberers. Der Prinz tötet ihn und befreit dadurch alle Gefangenen und Vei- zauberten. Die geliebte Prinzessin ist eine Zarentochter, mit der er sich verlobt. Die Suite gibt die wichtigsten Episoden des Balletts wieder. Die Introduktion (Einleitung) läßt den Zaubergarten aufbiühen. Eine Figur wächst aus dunkler liefe (Violoncello, Kontrabässe) zu einer lyrischen Melodie der Oboe. Die Far bigkeit, durch eine zauberhafte Instrumentation hervorgerufen, versetzt den Hörer sorort in eine märchenhafte Stimmung. Ein bunter Vogel, der Feuervogel, schwirrt plötzlich in diesem Zaubergarten umher. Das Schwirren, durch spielerische Eiguren zweier Flöten und einer Klarinette, durch Tremoli und das Pizzicato der Streicher, durch Glissandi des Klaviers und der Harfe unterstrichen, ist musikalisch äußerst suggestiv gestaltet. In einem Pas de deux (Tanz zu zweien) wird die Begegnung des Prinzen mit dem Feuervogel geschildert. Dann tanzen die ver zauberten Prinzessinnen (Scherzo). Ein Rondo erzählt von der aufkeimenden Liebe des Prinzen zu der schönsten Prinzessin. Hier hat Strawinsky eine Oboen melodie von anmutiger Süße geschaffen. Ihr steht eine Violinmelodie von ähn licher Lieblichkeit und lyrischer Verhaltenheit zur Seite. Aber der Zauberer Kastschei bannt zunächst alle in seine höllischen Fänge; der barbarisch-wilde Tanz, in dem, nach einem Wort Debussys, die „rhythmische Gewaltherrschaft" der Musik beginnt, hat etwas Brutales an sich, durch Schlagzeugpassagen und synkopische Melodiefetzen gekennzeichnet. Hier sind die Ansätze, die später im „Sacre du Printemps" zur Vorherrschaft gelangen, die den Rhythmus in den Vordergrund rücken. Strawinsky läßt auf dieses entfesselte Stück ein Wiegenlied des Feuervogels folgen, das nicht nur durch den gewaltigen Kontrast, sondern auch durch den bestrickenden Liebreiz der Melodie (Fagott) einen tiefen Eindruck hervorruft. Eine Hymne krönt die Ballettsuite, in der er allen moskowitischen Prunk und Reichtum aufleuchten läßt, so wie ihn auch viele der alten Märchen Rußlands enthalten. Die Hornmelodie steigt über die Violinen und Flöten immer höher empor, wird immer reicher harmonisiert und immer verführerischer im Klang ausgestattet. Sie wird metrisch vom Drei-Halbe-Takt zum Sieben-Viertel-Takt u.mgewandelt, und vor der endgültigen Steigerung werden durch Klavier- und Harfenakkorde, durch Pauken und tiefste Instrumente Glockeneffekte erzielt. Musikalisch wird der Eindruck einer gewaltigen, feierlich-großartigen Prozession im alten Rußland hervorgerufen. Strawinsky ist in diesem Werk Folklorist, nicht nur, weil seine Melodien Volkslied charakter haben, sondern auch, weil die Harmonik so spezifisch russisch ist, der Klang (trotz aller impressionistischen Anklänge, die aber auch bei Rimski-Korsa- kow zu finden sind) den Zauber des Rußlands der alten Märchen beschwört und der Rhythmus die Kraft dieses großartigen Landes und Volkes zum Ausdruck bringt. VORANKÜNDIGUNG: Mittwoch, den 25., und Donnerstag, den 26. Dezember 1974, jeweils 20.00 Uhr, Kulturpalost 4. AUSSERORDENTLICHES KONZERT Dirigent: Hartmut Haenchen Solist: Dr. Christoph Albrecht, Dresden, Orgel Werke von Bach, Haydn, Schoendlinger und Strauss Freier Kartenverkauf Programmblätter der Dresdner Philharmonie — Spielzeit 1974/75 — Chefdirigent: Günther Herbig Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Die Einführung in Strawinskys „Feuervogel" schrieb Prof. J. P. Thilman Druck: GGV, Produktionsstätte Pirna - lll-25'-12 2,85 ItG 009-93-74 »Inillnamnonii^ 3. AUSSERORDENTLICHES KONZERT 1974/75